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Aus: Ausgabe vom 31.05.2024, Seite 15 / Feminismus
Selbstbestimmung

»Geschlechtsmündigkeit für alle«

Konferenz zu Selbstbestimmung: Bündnis kritisiert Ampelgesetz und stellt Gegenentwurf vor. Ein Gespräch mit Luce deLire, Juliana Franke und Lola
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Protest gegen das Selbstbestimmungsgesetz der Ampelregierung in Berlin (12.4.2024)

Nach langem Ringen tritt am 1. November das Gesetz über die Selbstbestimmung in bezug auf den Geschlechtseintrag, kurz SBGG, in Kraft. Ihr veranstaltet an diesem Wochenende in Berlin die »Queerokratia – Bundeskonferenz für Selbstbestimmung«. Wer steht hinter dieser Initiative, und warum braucht es diese Konferenz noch?

Luce deLire: Queerokratia ist der Versuch, eine kollektive Selbstbestimmung zu initiieren, in der trans, inter und nichtbinäre Aktive oder Gruppen, die damit befasst sind, sich so organisieren, dass sie zusammen über sich bestimmen können. Als Organisationsteam kommen wir aus dem Bündnis ›Selbstbestimmung selbst gemacht‹, das sich aus Frustration über den Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz der Bundesregierung gegründet hat.

Juliana Franke: Es ist das reaktionärste und repressivste Selbstbestimmungsgesetz – historisch und global –, das es jemals gab. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, der im ursprünglichen Entwurf enthalten war, wurde in vorauseilendem Gehorsam gegenüber Konservativen rausgenommen. Dann wurden, und da beginnt die Einzigartigkeit dieses deutschen Gesetzes, verschiedenste repressive Regelungen, wie zum Beispiel ein Militärgeschlecht eingeführt. Wenn man zwei Monate vor einem sogenannten Spannungs- und Verteidigungsfall eine Erklärung abgibt, mit der man das eingetragene Geschlecht ›männlich‹ ändert, dann ist es in bezug auf den Militärdienst nicht gültig. Das SBGG geht über ein unzureichendes Gesetz hinaus und schafft neue Bedrohungslagen. Gleichzeitig gibt es ein Urteil vom Bundessozialgericht aus dem letzten Herbst, womit de facto eine Beendigung der bisherigen Transgesundheitsversorgung verkündet wurde.

Lola: Wir wollen unterschiedliche Menschen aus sozialen Bewegungen und aus offiziellen Verbänden zusammenbringen, Kräfte bündeln und überlegen, wie wir in den nächsten Jahren gemeinsam effektivere Politik machen können.

Wie war die Lage mit dem sogenannten Transsexuellengesetz (TSG), und wie ist der Stand jetzt?

J. F.: Das Transsexuellengesetz schrieb vor, dass man zu mindestens zwei Gutachtern gehen musste, um bestätigt zu bekommen, dass man seit mindestens drei Jahren unter dem inneren Zwang lebt, dem anderen Geschlecht, wie es binär formuliert wird, anzugehören. Das wurde teilweise mit Pädophilie in Verbindung gebracht, so dass man gefragt wurde, ob man mit Gedanken an Kinder masturbiert oder ähnliches. Oder es wurden Aufgaben gegeben wie in Unterwäsche einen Hampelmann hüpfen. Das war eine sehr direkte Durchsetzung von staatlichem Zwang, für den man selbst zahlen musste – um die 1.800 Euro. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz reicht es, eine Erklärung abzugeben, dass man das eingetragene Geschlecht ändert. Aber dann gibt es diese ganzen Verhinderungsregelungen, etwa einen Absatz zu Frauenparkplätzen in der Erklärungssektion, wo man letztlich nachweisen muss, wie vergewaltigbar man ist, um ein wirkliches Anrecht zu haben. Man kann ewig darüber reden, was da alles so Skurriles drinsteht.

deLire: Das Transsexuellengesetz war ein pathologisierendes Gesetz und hat klar gesagt: ›Ihr seid krank, das müsst ihr zertifiziert bekommen, und dann dürft ihr Namens- und Geschlechtseintrag ändern.‹ In der alten Variante von 1980 bedeutete das auch bis 2011 Sterilisationen, bis 2009 Scheidungen und die sogenannte Angleichung der äußeren Geschlechtsmerkmale. Das SBGG ist hingegen ein kriminalisierendes Gesetz. Es gibt darin einen konstanten Verdacht, dass es missbraucht wird. Und dieser prognostizierte Missbrauch begründet dann Repression. Beim sogenannten Hausrechtsparagraphen stellt der Erklärungstext insbesondere trans weibliche Personen unter einen Generalverdacht, sich widerrechtlich oder mit schlechten Intentionen Zutritt verschaffen zu wollen.

Auch beim schon genannten Militärgeschlecht wird davon ausgegangen, dass das Selbstbestimmungsgesetz missbraucht werden könnte, um den Dienst an der Waffe zu verweigern. Aber selbst nach dem Einziehen durch die Bundeswehr kann noch eine Verweigerung ausgesprochen werden. Der Verteidigungsfallparagraph kann nicht zum Dienst an der Waffe zwingen. Und unter Artikel 12 a des Grundgesetzes könnte man auch jetzt schon Frauen zum Militärdienst verpflichten, nämlich zum zivilen – der Benefit ist sozusagen null. Die Pathologisierung nach TSG wird im SBGG durch Kriminalisierung ersetzt. Dabei passiert ebenfalls eine Juridifizierung und eine Entpolitisierung der Politik.

Wie drückt sich das aus?

deLire: Die Entpolitisierung findet oder hat dadurch stattgefunden, dass man zwar die Verbände – also zum Beispiel den ›Bundesverband Trans*‹ – angehört, aber ihnen nicht zugehört hat. Trotz grundlegender Kritik, die viele zivilgesellschaftlich Aktive geäußert haben, hat man sich für die restriktivste Auslegung der bestehenden Rechtslage und medizinischen Situation entschieden.

Gleichzeitig gibt es Stellen, die auf eine verfassungsgerichtliche Regelung hinauslaufen. Die pathologisierende medizinische Begutachtung wird zwar abgeschafft, aber dafür wird Saunabetreibenden, Toilettenpersonal und anderen Leuten eine Begutachtungskraft zugesprochen. Alle möglichen Affekte und Vorurteile, die gegenüber trans Personen bestehen, gibt es quasi in einem Ratgeber. Gleichzeitig sagt der Erläuterungstext aber auch, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz weiterhin gelten soll. Es ist zu erwarten, dass es an dieser Stelle Streitfälle geben wird. Der Gesetzgeber, das politische Organ unseres Staates, entzieht sich damit der politischen Entscheidung und verweist sie an die Gerichte. Im Endeffekt hat man das alte disziplinierende und pathologisierende Gesetz in eine neoliberale, juridifizierte und entpolitisierte neue Form gegossen.

Gewalt und Hetze gegen trans Personen hat deutlich zugenommen. Hat die Debatte um das SBGG das noch befeuert?

deLire: Gesetzesinhalte wie der Hausrechtsparagraph, die in der Presse teils unkritisch rezipiert wurden, haben dazu beigetragen, dass Gewalt eine respektable Basis bekommen hat. Wenn es in einem Gesetzestext steht, ist es etwas ganz anderes, als wenn bei der Jungen Freiheit von sexuellen Belästigungsängsten in Saunen geschrieben wird. Dabei sagt der Gesetzestext selbst, dass es kaum Missbrauchsgefahr gibt.

J. F.: Und dann wird es trotzdem geregelt, und die Ängste der Reaktionären sind genug, das zum gesetzlichen Auftrag zu machen – Realitäten aus Phantasmen.

deLire: Insbesondere in bezug auf Geflüchtete leistet das Gesetz staatlicher Gewalt Vorschub. Wenn eine Erklärung nach SBGG innerhalb von zwei Monaten vor der Entscheidung einer Abschiebung gemacht wird, geschieht die Änderung von Namens- und Geschlechtseintrag nicht. Das kann dann als Täuschungsversuch zur Verhinderung dieser Abschiebung gewertet und als zusätzlicher Abschiebungsgrund genommen werden.

Lola: Man kann ziemlich klar nachzeichnen, dass dieses Gesetz zu mehr Gewalt führen wird. In den USA sind in einigen republikanisch regierten Staaten transfeindliche Gesetze verabschiedet worden. Gleichzeitig kam es etwa an Schulen häufiger zu gewalttätigen Angriffen auf trans Personen …

speziell gegen trans Frauen. Warum?

deLire: Es gibt unterschiedliche Rollen, die transgeschlechtlichen oder nichtbinären Menschen zugeordnet werden. Viele nichtbinäre und transmaskuline Personen werden oft als hilflose Mädchen gezeichnet, die geschützt werden müssen vor der Aggression durch Männer – und darin sind trans Frauen eingeschlossen. Patriarchale Nationalstaaten verstehen sich als Reproduktionsgemeinschaften, in denen Frauen auf eine bestimmte Art und Weise gelesen werden. Daher kommt diese völlig verzerrte Wahrnehmung von Transmaskulinität und Nichtbinarität einerseits. Auf der anderen Seite werten sogenannte transexklusive radikale Feministinnen (TERF, jW) Transfemininität generell als Angriff auf Weiblichkeit selbst.

Was ist das zentrale Moment in eurem Selbstbestimmungsgesetz?

deLire: In unserem Gesetzentwurf geht es weder um Ängste noch um Ausnahmen. Wir sagen ›Geschlechtsmündigkeit für alle‹ und verstehen das als die Fähigkeit einer individuellen Person, ein Urteil über die eigene Geschlechtlichkeit zu treffen. Diese Geschlechtsmündigkeit muss nominell als auch materiell durchgesetzt werden. Das SBGG beschränkt sich auf eine minimale nominelle Geschlechtsmündigkeit. Die materielle Dimension bezieht sich auf Dinge wie medizinische Versorgung, aber auch Reparationen für Menschen, die unter dem Transsexuellengesetz gelitten haben und zum Beispiel sterilisiert worden sind. Reparationen auch für intergeschlechtliche Menschen, die gegen ihren Willen oft im Kindesalter Operationen unterzogen wurden und die langfristige Folgen haben können.

Gibt es Länder, wo Selbstbestimmung besser geregelt wurde?

J. F.: Das erste Gesetz dieser Art gab es 2012 in Argentinien. Das umfasst auch Anspruch auf medizinische Behandlungen, die unter dem Persönlichkeitsrecht geregelt wurden. Andere Gesetze, wie zum Beispiel das in Spanien oder Belgien, die in der Zwischenzeit entstanden, sind weniger gut und umfassend als das argentinische und enthalten auch manche solcher Misstrauensregelungen. So wird die Möglichkeit begrenzt, wie oft man die Änderung machen kann, und eine Verzögerung oder eine Bestätigungspflicht eingebaut. Aber nirgends wurden Missbrauchsängste in so einem absurden Umfang legislativ umgesetzt.

Lola: Wir sollten davon ausgehen, dass die nächsten Selbstbestimmungsgesetze, die in Europa, aber auch weltweit verabschiedet werden, eher so aussehen werden wie das deutsche und weniger wie das argentinische.

»Queerokratia – Bundeskonferenz für Selbstbestimmung«, 30. Mai bis 2. Juni im Ballhaus Ost in Berlin.

Luce deLire, Juliana Franke und Lola sind aktiv im Bündnis »Selbstbestimmung selbst gemacht«queerokratia.de

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Petra L. aus Trebbin (31. Mai 2024 um 08:28 Uhr)
    Warum steht dieser Artikel auf der »Feminismus«-Seite? In den Publikationen der Arbeiterbewegung hieß es früher »Frauenfrage«. Gefiele mir sowieso besser – weil damit deutlich wird, dass der proletarische Feminismus gemeint ist – und nicht der bürgerliche.