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Aus: Ausgabe vom 01.06.2024, Seite 8 / Ansichten

NATO-Lebenslügen

Westliche Waffen für die Ukraine
Von Jörg Kronauer
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Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin, zu Besuch in Kiew

Krieg führen, ohne Krieg zu führen. Dass man, ganz konkret, der Ukraine eine komplette Streitmacht an NATO-Waffen zur Verfügung stellen könne, damit sie immer weiter gegen Russland kämpfe, ohne dass die NATO-Staaten sich die Hände blutig machen müssten: Das ist die große Lebenslüge gewesen, die die westliche Politik ihrer Öffentlichkeit seit dem 24. Februar 2022 vorgemacht hat. Und eine ganze Weile schien die Rechnung ja auch aufzugehen. Zwar machte sich bei Teilen des Publikums immer wieder ein gewisses Unwohlsein breit, wenn die nächste Eskalationsstufe hin zum nächsten Waffensystem genommen wurde: Tritt Deutschland mit der Lieferung von Haubitzen denn auch wirklich nicht in den Krieg ein? Was ist, wenn man Kiew Kampfpanzer, die berühmtberüchtigten »Leoparden«, zur Verfügung stellt? Nun, in der Praxis lief es bisher glatt. Aus Sicht Berlins wurde bislang jede Hürde ohne größere Blessuren genommen.

Das Problem: Die große Lebenslüge funktioniert auf Dauer nur, wenn die Ukraine den Krieg gewinnt oder zumindest ein militärisches Patt halten kann. Wenn sie aber zu verlieren droht, wird es ernst. Und zwar nicht bloß, weil Moskau sich mit einem Sieg über Kiew gegen einen Verbündeten der NATO durchsetzen würde, was schon an sich ein heftiger Schlag für das Prestige und den Einfluss des westlichen Militärbündnisses wäre. Anders als der Teil der westlichen Öffentlichkeit, der sich die Lebenslüge aufbinden lässt, weiß die Welt ganz genau, dass in der Ukraine natürlich die NATO Krieg führt – mit der kleinen, aber feinen Fußnote, dass das Schlachtfeld bislang auf ukrainisches Territorium und die Opfer auf Ukrainer beschränkt sind. Eine ukrainische Niederlage würde also, der Sache nach ganz zu Recht, als Niederlage der NATO, des Westens wahrgenommen. Letztlich steht also nichts Geringeres als die Allmacht der bisherigen Herren der Welt auf dem Spiel.

Zum Machtverlust aber darf es nach Auffassung ebenjener Herren natürlich nicht kommen. Also muss eine Niederlage der Ukraine verhindert werden, um so ziemlich jeden Preis. Wenn es dazu aber nötig ist, noch weiter zu eskalieren, etwa russisches Territorium mit westlichen Waffen anzugreifen, westliche Soldaten ins Kriegsgebiet zu entsenden – dann, so geht die Logik der Herrschaft, muss es halt sein. Und so singt die Bundesregierung der Öffentlichkeit ihre Lebenslüge weiter vor, erklärt, auch der Beschuss russischen Hoheitsgebiets mit deutschen Waffen sei vom Völkerrecht irgendwie gedeckt, wohl wissend, dass Moskau mitgeteilt hat, es teile die völkerrechtlichen Spitzfindigkeiten der NATO nicht und behalte sich Vergeltungsschläge vor. Sobald der erste davon erfolgt ist – wann und wo das geschieht, darauf hat im Westen niemand Einfluss –, platzt die Lebenslüge. Dann ist auch Deutschland selbst in dem Krieg, den es bislang mit Hilfe der Ukraine führt. Vielleicht, wer weiß, schon bald.

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  • Leserbrief von Peter Franz aus Goerlitz (4. Juni 2024 um 12:28 Uhr)
    Fast alle Medien verbreiten nur noch halbe Wahrheiten, ganze Lügen, Hetze und Verleumdungen über alles und jeden. So auch mit den Nachrichten, der Westen (NATO
    und EU) habe der Ukraine nun erlaubt, auch russisches Territorium mit westlichen Waffen zu beschiessen und Putin sei nun zu Friedensgesprächen bereit.
    1. Der Westen hat der übrigen Welt gar nichts zu erlauben oder zu verbieten. Er nimmt sich das nur heraus aus den längst überlebten Weltherrschaftsallüren einiger weniger Imperialisten.
    2. Die Ukraine schießt längst schon mit westlichen Waffen wie IRIS, ATACMS, Panzehaubitzen, Panzern, Drohen und anderem auf Belgorod, Rostow, Kursk und Moskau ohne alle Erlaubnis. Auch die Republiken Lugansk, Donetzk, Krim und Cherson sind per Volksabstimmung längst Teil der Russischen Föderation. Und vorher haben die ukrainischen Nationalisten längst skrupellos auf die eigene (vor allem russischsprachige) Bevölkerung geschossen. Diese Tatsachen werden nicht dadurch aus der Welt geschafft, dass bestimmte alte Herren und Damen im Westen die Fakten »nicht anerkennen«.
    3. Wenn der Westen der Ukraine die Beschießung Russlands mit westlichen Waffen erlaubt, dann meint er etwas ganz anderes, als er spricht. Vor dieser westlichen Eskalation mit wirklichen unabsehbaren Folgen hat Russland insbesondere die kleineren Nato- und EU-Länder längst deutlich gewarnt.
    4. Es ist auch eine Lüge, dass Putin nun, angesichts der Lage, zu Friedensgesprächen bereit sei. Putin war dies von Anfang an, nur der Westen und Selenskij werden es demnächst auch in der Schweiz nicht sein.
  • Leserbrief von Klaus Ludwig aus Bosserode (4. Juni 2024 um 12:20 Uhr)
    NATO Waffen »dürfen« auf russischem Territorium einschlagen, dort Tod und Zerstörung bringen. Für Kriegstreiber in Politik und Medien eine Selbstverständlichkeit, hat die Ukraine doch das Recht auf Selbstverteidigung, also ist es auch völkerrechtlich opportun. Gut. Aber unwichtig. Es gilt, den Fokus auf eine Besonderheit im Ukraine-Krieg zu richten: Russland unterbindet bis dato nicht den militärischen Nachschub in die Ukraine. Wäre doch leicht. Man kann einen »Leopard« nicht zerlegen und im Trabi über die Grenze schmuggeln. Einfacher als jetzt auf den Straßen oder Schienen Richtung Front lassen sie sich nicht zertrümmern. Warum (!) lässt Russland Nachschub in diesem gigantischen Umfang zu und bekämpft unsere »Superwaffen« immer erst, wenn sie auf dem Schlachtfeld zum Einsatz kommen. Unterbrechung des Nachschubs ist doch das Erste, was jeder Angreifer leisten muss. Nur Putin weiß, warum seine Soldaten diese Gefahr aushalten und die Bevölkerung im Donbass sie erdulden muss. Aber wer liest und zuhört, erkennt den Pokerspieler. Er will die Türen nach Europa offen halten. Schon der Einmarsch in die Ukraine ist nur als Signal an Washington und Brüssel zu begreifen, auf sich aufmerksam zu machen. Russland nicht ernst zu nehmen, das ist die Absicht, sollte sich niemand mehr erlauben können. Das Faktische respektieren. Dafür gibt es in der Geschichte viele Kriege als Beispiel und die meisten davon waren erfolgreich. Dieser hier aber wurde in Washington ausgenutzt, eine Schlacht zwischen Gut und Böse zu inszenieren und die Abhängigkeit der EU von Energieressourcen von Russland weg zu den USA zu lenken, ebenso zu verlockend wie die Welt in einen globalen Wirtschafts- und Handelskrieg zu zwingen. Und Putin, Russland? Wenn die schon in der Ukraine befindlichen Waffensysteme der NATO und die zusätzlichen, siehe Luftwaffe, direkt gegen Russland zum Einsatz kommen, also nicht nur im Donbass Menschen töten, Städte zerstören und Infrastruktur beschädigen, muss Moskau seine Zurückhaltung aufgeben. Den Krieg, wie ihn Putin führen möchte, kann die NATO nicht gewinnen, weswegen Putin diese Grabenkämpfe nach dem Modell Erster Weltkrieg vorzieht. Die Folgen, diese Art »soft war« nicht fortsetzen zu können, sind unabsehbar und tatsächlich ein Eskalationssprung, denn jetzt droht tatsächlich ein anderer Krieg. Schlagen deutsche Kanonen, Bomben oder Raketen auf originär russischem Land ein, zwingt dies Russland zur Änderung der bisherigen Strategie. Alles andere würde dort zum Umsturz führen, aber keinen, von dem Strack-Zimmermann und Co träumen, sondern einen russischen Trump, der jede Zurückhaltung aufgeben wird, an die Schalthebel der Macht spülen. Es bräuchte mehr Putinversteher in Deutschland, dies zu vermeiden.
  • Leserbrief von Christian Helms aus Dresden (4. Juni 2024 um 12:13 Uhr)
    Spätestens als bekannt wurde, dass der »Wertewesten« im Frühjahr 2022 ein Waffenstillstandsabkommen zwischen der Ukraine und Russland verhinderte, ist offensichtlich, wer die Kriegsparteien sind: Russland und die von den USA geführte NATO. Schon vor 100 Jahren scheiterte der Westen, scheiterten die Engländer und Franzosen in den Interventionskriegen gegen das junge Sowjetrussland. Reichlich zehn Jahre später verhinderte England eine von der Sowjetunion angestrebte Antihitlerkoalition. Wohl in der Hoffnung, in der absehbaren Konfrontation würden sich Nazideutschland und die Sowjetunion gegenseitig vernichten. Stattdessen kam es zum Hitler-Stalin-Pakt. Offensichtlich die gleiche Hoffnung leitete den Westen – inzwischen unter der Führungsmacht USA – als er die für 1942 vorgesehene Invasion in der Normandie bis 1944 verschleppte. Dann dauerte es allerdings 45 Jahre, bis er sich wieder Hoffnungen auf die russischen Ressourcen machen durfte. Das war in den Jelzin-Jahren. Anschließend scheiterten die Annäherungsversuche Putins an den europäischen Westen zwangsläufig. Denn ein Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon mit dem entsprechenden politischen Selbstbewusstsein eines so vereinigten Europas passt nicht zum Hegemonialanspruch der USA. Mit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands gegen die Ukraine sah der Westen erneut die Chance für die Unterwerfung Russlands. »Legitimiert« durch das Völkerrecht und den Verteidigungskampf der Ukraine hoffte er, Russland endlich in die Knie zu zwingen. Doch es »läuft« nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Mit dem Einsatz westlicher Waffen direkt gegen Russland riskiert die NATO jetzt den offenen Konflikt, die Gefahr eines Atomkrieges. Denn wer vermittelt die Zielkoordinaten, wer programmiert die vom Westen gelieferten, gegen Russland gerichteten Raketen?
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (1. Juni 2024 um 12:59 Uhr)
    Rückblickend scheint es, dass sich beide Seiten verkalkuliert haben: Sowohl die russische Spezialoperation als auch die NATO-Strategie sind gescheitert. Beide Streitparteien können sich weder einen totalen Sieg noch eine Niederlage leisten. Was nun? Wie lässt sich diese Situation ohne Gesichtsverlust lösen? Das ist die Millionenfrage! Wer kann, will oder muss mit wem Frieden schließen? Russland fühlt sich durch die NATO-Osterweiterung bedroht und ist nur mit einem neutralen ukrainischen Staatsgebilde als Pufferzone zufrieden. Damit stellt sich die Frage, was für eine »Restukraine« am Ende übrigbleibt und welchen Status sie haben wird. Angesichts der Frontlage scheint es, dass je länger der Krieg dauert, desto weniger von der Ukraine übrigbleibt. Russland und vor allem die USA können diesen Krieg weiterführen. Anders sieht es bei der Ukraine aus, die immer weniger Soldaten hat, und bei Europa, das wirtschaftlich ausgeblutet wird. Entscheidend werden die US-Wahlen sein und wer schließlich der neue Präsident wird. Falls die Demokraten mit Biden die Oberhand gewinnen, könnte ich mir vorstellen, dass Russland kurz vor der Wahl seine militärische Macht demonstriert und in der Ukraine Tabula Rasa macht – vorausgesetzt, die Ukraine geht bis dahin nicht aufgrund von Kriegsermüdung selbst in die Knie.

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