NATO-Lebenslügen
Von Jörg KronauerKrieg führen, ohne Krieg zu führen. Dass man, ganz konkret, der Ukraine eine komplette Streitmacht an NATO-Waffen zur Verfügung stellen könne, damit sie immer weiter gegen Russland kämpfe, ohne dass die NATO-Staaten sich die Hände blutig machen müssten: Das ist die große Lebenslüge gewesen, die die westliche Politik ihrer Öffentlichkeit seit dem 24. Februar 2022 vorgemacht hat. Und eine ganze Weile schien die Rechnung ja auch aufzugehen. Zwar machte sich bei Teilen des Publikums immer wieder ein gewisses Unwohlsein breit, wenn die nächste Eskalationsstufe hin zum nächsten Waffensystem genommen wurde: Tritt Deutschland mit der Lieferung von Haubitzen denn auch wirklich nicht in den Krieg ein? Was ist, wenn man Kiew Kampfpanzer, die berühmtberüchtigten »Leoparden«, zur Verfügung stellt? Nun, in der Praxis lief es bisher glatt. Aus Sicht Berlins wurde bislang jede Hürde ohne größere Blessuren genommen.
Das Problem: Die große Lebenslüge funktioniert auf Dauer nur, wenn die Ukraine den Krieg gewinnt oder zumindest ein militärisches Patt halten kann. Wenn sie aber zu verlieren droht, wird es ernst. Und zwar nicht bloß, weil Moskau sich mit einem Sieg über Kiew gegen einen Verbündeten der NATO durchsetzen würde, was schon an sich ein heftiger Schlag für das Prestige und den Einfluss des westlichen Militärbündnisses wäre. Anders als der Teil der westlichen Öffentlichkeit, der sich die Lebenslüge aufbinden lässt, weiß die Welt ganz genau, dass in der Ukraine natürlich die NATO Krieg führt – mit der kleinen, aber feinen Fußnote, dass das Schlachtfeld bislang auf ukrainisches Territorium und die Opfer auf Ukrainer beschränkt sind. Eine ukrainische Niederlage würde also, der Sache nach ganz zu Recht, als Niederlage der NATO, des Westens wahrgenommen. Letztlich steht also nichts Geringeres als die Allmacht der bisherigen Herren der Welt auf dem Spiel.
Zum Machtverlust aber darf es nach Auffassung ebenjener Herren natürlich nicht kommen. Also muss eine Niederlage der Ukraine verhindert werden, um so ziemlich jeden Preis. Wenn es dazu aber nötig ist, noch weiter zu eskalieren, etwa russisches Territorium mit westlichen Waffen anzugreifen, westliche Soldaten ins Kriegsgebiet zu entsenden – dann, so geht die Logik der Herrschaft, muss es halt sein. Und so singt die Bundesregierung der Öffentlichkeit ihre Lebenslüge weiter vor, erklärt, auch der Beschuss russischen Hoheitsgebiets mit deutschen Waffen sei vom Völkerrecht irgendwie gedeckt, wohl wissend, dass Moskau mitgeteilt hat, es teile die völkerrechtlichen Spitzfindigkeiten der NATO nicht und behalte sich Vergeltungsschläge vor. Sobald der erste davon erfolgt ist – wann und wo das geschieht, darauf hat im Westen niemand Einfluss –, platzt die Lebenslüge. Dann ist auch Deutschland selbst in dem Krieg, den es bislang mit Hilfe der Ukraine führt. Vielleicht, wer weiß, schon bald.
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Richtigsteller des Tages: Thielko Grieß
vom 01.06.2024
und EU) habe der Ukraine nun erlaubt, auch russisches Territorium mit westlichen Waffen zu beschiessen und Putin sei nun zu Friedensgesprächen bereit.
1. Der Westen hat der übrigen Welt gar nichts zu erlauben oder zu verbieten. Er nimmt sich das nur heraus aus den längst überlebten Weltherrschaftsallüren einiger weniger Imperialisten.
2. Die Ukraine schießt längst schon mit westlichen Waffen wie IRIS, ATACMS, Panzehaubitzen, Panzern, Drohen und anderem auf Belgorod, Rostow, Kursk und Moskau ohne alle Erlaubnis. Auch die Republiken Lugansk, Donetzk, Krim und Cherson sind per Volksabstimmung längst Teil der Russischen Föderation. Und vorher haben die ukrainischen Nationalisten längst skrupellos auf die eigene (vor allem russischsprachige) Bevölkerung geschossen. Diese Tatsachen werden nicht dadurch aus der Welt geschafft, dass bestimmte alte Herren und Damen im Westen die Fakten »nicht anerkennen«.
3. Wenn der Westen der Ukraine die Beschießung Russlands mit westlichen Waffen erlaubt, dann meint er etwas ganz anderes, als er spricht. Vor dieser westlichen Eskalation mit wirklichen unabsehbaren Folgen hat Russland insbesondere die kleineren Nato- und EU-Länder längst deutlich gewarnt.
4. Es ist auch eine Lüge, dass Putin nun, angesichts der Lage, zu Friedensgesprächen bereit sei. Putin war dies von Anfang an, nur der Westen und Selenskij werden es demnächst auch in der Schweiz nicht sein.