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Aus: Ausgabe vom 01.06.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Wenn Kommunisten träumen

Mahnung und Utopie: Justin Steinfelds Roman »Califa« spielt die Blockkonfrontation als Atomkrieg durch
Von Ronald Weber
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Blieb lieber im Exil: Justin Steinfeld

Das Buch hat das Zeug zu einem spannenden Thriller. In den späten 1970er Jahren hätte man sich das durchaus auf der Leinwand vorstellen können. Heißer statt Kalter Krieg. Der antikommunistische Westen, mit Califa über einen atomwaffenfähigen Stoff verfügend, den die Sowjetunion ermangelt, greift an. Die Todesbomber fliegen gen Osten. Ohne Kriegserklärung. Im Hauptquartier warten die Militärs auf die Nachricht vom atomaren Erstschlag. Aber die bleibt aus. Irgend etwas ist gewaltig schiefgelaufen.

Justin Steinfeld verhehlt in dem 53 Jahre nach seinem Tod im britischen Exil in der Edition Nautilus erschienenen Roman »Califa oder Die Liebe zu einer Starkstromtechnikerin« keineswegs, auf welcher Seite seine Sympathien liegen: bei der Sowjetunion nämlich, die hier Cistransatia heißt. Das ist, schaut man sich Steinfelds Biographie an, nicht verwunderlich. Aus dem Umfeld der Hamburger KPD kommend, engagierte sich der 1886 in Kiel in einer jüdischen Familie geborene Journalist vor allem am Theater: als Kritiker sowie als Mitorganisator und Autor politischer Revuen für die von ihm mit ins Leben gerufene Gruppe »Kollektiv Hamburger Schauspieler«. Schon damals war Steinfelds wesentliches Anliegen, vor dem kommenden Weltkrieg zu warnen. Nach der Machtübergabe steckten ihn die Nazis ins KZ Fuhlsbüttel. Aus der »Schutzhaft« entlassen, floh er nach Prag, später nach Großbritannien.

Der Faschismus und das durch ihn hervorgerufene Exil haben dazu geführt, dass die Namen vieler Autoren aus dem Gedächtnis der Öffentlichkeit verschwunden sind. Aber manchmal lüftet sich die Decke des Vergessens. So wie jetzt mit diesem, aus dem Nachlass veröffentlichten, neuen Roman. Es ist im Fall Steinfeld kurioserweise bereits der zweite, denn schon 1984 erschien im Neuen-Malik-Verlag »Ein Mann liest Zeitung«, eine kritische Schilderung des Prager Exils und Reflexion des Emigrantendaseins. Ein Neffe Steinfelds hatte den Verlegern Jo Hauberg und Thies Ziemke das Manuskript übergeben. Teil des Konvoluts war auch »Califa«. Aber der Text verschwand in der Schublade – bis Hauberg sich dessen erinnerte und die Edition Nautilus von der Publikation überzeugte.

In »Califa« stehen sich Cistransatia auf der einen und Panterra (Großbritannien) und Nomandy (USA) auf der anderen Seite gegenüber. Nomandy, die kommende Macht des kapitalistischen Westens, verfügt über mehr als 700 Einheiten Califa, »genug, um den Mond gegen den Mars zu sprengen«, wie Primerus, der Direktor der Vereinigten Währungsbanken, befriedigt feststellt. Aber bevor es zum Einsatz der Vernichtungswaffe kommt, lässt Primerus zunächst eine andere Bombe platzen: Ohne Vorankündigung werden die westlichen Börsen geschlossen und der Goldstandard aufgehoben. Die neue Währungsdeckung heißt: Clf. – Califa. Was an den Märkten für Panik und unter den Brokern für Schlägereien sorgt, ist ein wohlüberlegter Coup: der Ausschluss Cistransatias vom Weltmarkt.

Ebendort aber ahnt man bereits, was der Westen in puncto Atomkrieg im Schilde führt und hat vorgesorgt. Ganze Städte wurden unter der Erde errichtet, von denen nun die erste bezogen wird. Eine Millionenmetropole mit künstlichem Tageslicht, Fabriken, Kinos, Sportstätten. Gegen den Atombombenangriff jedoch hilft das nicht. Aber zwei Ingenieure haben eine Idee: eine unsichtbare Wand aus Gas, »eine bis in die hohe Stratosphäre brennende Gasbarrage«, die das Eindringen fremder Flugzeuge verhindern soll. Und tatsächlich verhindert, wenn auch nur auf Zeit. Als die 42 westlichen Bomber ohne jede Kriegserklärung in den Luftraum Cistransatias eindringen, wirft sie die brennende Luft zurück, sie fangen Feuer und stürzen ab.

Weil auch eine zweite atomare Angriffswelle scheitert, ordnet der Oberbefehlshaber Panterras, General Harkensee, den Großangriff auf die feindlichen Truppen in Potatis (Deutschland) an, das zum »Schlachtfeld der Welt« wird. Dessen Sektoren A, B und C kontrolliert der Westen, D Cistransatia. Die Deutschen erscheinen bei Steinfeld als »ein im Kern verteufeltes, verderbtes Volk«, spielen aber ansonsten keine große Rolle. Als sich der Regierungspräsident Erwin Raab – offenbar eine Reminiszenz an Gustav Heinemann – gegen die angeordnete Remilitarisierung wendet, wird er kurzerhand von einem »Alten Herrn von Rechts« erschlagen.

In Potatis wird der Krieg mit allen Mitteln geführt: »Alle Schrecknisse ebenso kühner wie mörderischer Phantasie wurden losgelassen.« Als die Soldaten der Armee von Virnania (Frankreich) zum Feind übergehen, greift Harkensee zum äußersten Mittel: Zwölf Atombomben werden über dem Schlachtfeld abgeworfen. »Die Situation war für Weiß gerettet und die Zivilisation war ermordet.« Dann aber, inmitten all dieses Grauens, kommt die Wendung: »Noch ehe die Sonne ihre flache Mittagshöhe erreicht hatte, flaute die Schlacht ab und verstarb. Da war kein Befehl gewesen und erst recht kein Übereinkommen. Die Schlacht erstarb am Schrecken.« Inmitten der größten nur denkbaren Katastrophe führt Steinfeld die Handlung zu einem guten Ende, das man heute wohl unter die Kategorie »Wenn Kommunisten träumen« rubrizieren könnte: In Panterra und Nomandy kommt es zum Umsturz. Die Arbeiter treten in den Generalstreik, neue Regierungen werden eingesetzt. Deren Hauptziel: Frieden und Aussöhnung.

Möglich geworden aber ist das durch ein Cistransatiatisches Spezialkommando, das den auf einer Insel gelegenen Produktionsort von Califa unschädlich macht und Nomandy damit auf lange Sicht die Übermacht nimmt. Hier kommt nun eben die vom Verlag prominent – vielleicht etwas zu prominent, aber sicherlich verkaufsträchtig – in den Untertitel aufgenommene Starkstromtechnikerin Anna Prenn und deren Liebe zu dem Piloten Alex Rettberg ins Spiel. Steinfeld hat die Liebeshandlung in vorherigen Kapiteln bereits angedeutet, aber doch eher am Rande mitlaufen lassen. Kurzzeitig rückt sie ins Zentrum, und man wünscht sich als Leser, dass der Autor ihr mehr Raum gegeben hätte. Denn Steinfeld schreibt ziemlich gute Dialoge, und das Aufeinandertreffen von höchstem politischen, ja ethischen Anspruch, die Rettung der Welt, und dem individuellen Recht, das diese junge Liebe fordert, macht einen wirkungsvollen dramatischen Widerspruch.

Justin Steinfeld hat mit »Califa« ein angesichts der Weltlage sehr aktuelles Buch geschrieben, das mit einem feinen, pointierten Deutsch zu überzeugen weiß und trotz zahlreicher politischer Reflexionen und Einschübe nicht durchhängt. Man liest das in einem weg und fragt sich: Ist der Text wirklich schon mehr als ein halbes Jahrhundert alt?

Justin Steinfeld: Califa oder Die Liebe zu einer Starkstromtechnikerin. Mit einem Vorwort von Jo Hauberg und einem Nachwort von Willi Winkler. Edition Nautilus, Hamburg 2024, 343 Seiten, 24 Euro

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