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Aus: Ausgabe vom 01.06.2024, Seite 11 / Feuilleton
Film

Ober- und Unterhitze. Zum Tod des Dokumentarfilmers Thomas Heise

Von Alexander Reich
05 Ich bin froh, daß dei unheilvolle Stille vorbei ist © Stefan
Aus dem letzten Film von Thomas Heise, der opulenten Collage »Heimat ist ein Raum aus Zeit« (2019)

Im Dokumentarfilm »Stau – Jetzt geht’s los« (1992) zeigt ein bulliger Neonazi in einer kleinen Plattenbauküche, was er drauf hat: Marmorkuchen. Unter den Augen seiner gramerfüllten Mutter rührt er mit kindlichem Eifer in der Backform. »Jetzt stellen wir die Marmorierung her«, erklärt er stolz, »durch spiralförmiges Drehen der Gabel«, und weiß dann auch um die Bedeutung einer konstanten Ofentemperatur. Während des Backvorgangs erklärt die Mutter, warum sie den Minderjährigen 1990 in der Platte in Halle (Saale) zurückließ. Sie hatte »alles gegeben, um den Sozialismus in Gang zu bringen«. Nun ging es nur noch »auf finanzieller statt ideeller Basis« weiter. Sie zog zum Arbeiten in den Westen, damit der Sohn es mal besser haben werde. Der bekam, ganz auf sich gestellt, wenig gebacken. »Scheiße!« kreischt er nun beim Blick in den Ofen. »Der ist schon richtig verbrannt obendrauf!« Und während er mit den Tränen kämpft, murmelt die Mutter etwas von »Ober- und Unterhitze«.

Der Regisseur des Films, Thomas Heise, hatte zur legendären Kulturaristokratie der DDR gehört, Abteilung freundliche Opposition. Sein Vater Wolfgang war als namhafter Philosoph angeeckt, der Junior tat es ihm als Filmhochschüler nach. Wie er Bahnhofstrinker oder skurrile Amtsvorgänge zeigte, war den Funktionären zu realistisch. 1990 war Thomas Heise, wie so viele andere, arbeitslos, bekam dann aber im Winter das Angebot, mit Geld des Landes Sachsen-Anhalt einen Film zu drehen. Einzige Bedingung: Es musste um Neonazis gehen. Also stapfte er eines Abends durch den Schneematsch in Halle-Neustadt auf dem Weg zur Nazidisko »Roxy«. Zu seiner Erleichterung traf er auf eine Mutter, die ihren Sohn dort rausholen wollte, musste also nicht alleine rein. Er setzte sich an die Theke, trank Bier, lauschte dem Nazigegröle und machte sich nach ein paar Stunden wieder auf den Heimweg. So ging das ein paar Wochen, bis er mit einem Nazi ins Plaudern über Zahnschmerzen kam. Als der dann fragte, was Heise hier wolle: »Einen Film über euch drehen.«

Weil Heise die Nazis in »Stau« als bedrohlich, aber auch als arme Schweine zeigte, gab es heftige Proteste gegen Aufführungen des Films. Zum Teil waren die getragen vom Gefühl moralischer Überlegenheit von Antifaschisten aus besserem Hause. Heise lag so etwas fern. Er drehte noch zwei weitere Filme über den Bodensatz in Halle/Neustadt, inszenierte Theater­stücke von Brecht und Heiner Müller am Berliner Ensemble, wurde dann Filmprofessor in Karlsruhe und Wien.

02 Thomas Heise © Inge Zimmermann.jpg
Thomas Heise (1955–2024)

Mit dem großen Erwin Geschonneck hat Heise übers Theaterspielen im KZ Dachau geredet und darüber, was das Schlimmste am 100-Jahre-alt-Werden ist: »jeden Morgen Zähne putzen«.

Er blieb bei denen, die unten sind, und hatte nie ein Problem damit, die Hand, die ihn fütterte, zu beißen. Eine MDR-Arte-Produktion über abgehängte Ostberliner Jugendliche nannte er »Im Glück (Neger)« (2006). Und weil er sich standhaft weigerte, das N-Wort aus dem Titel zu nehmen, wurde der Film ohne Programmankündigung nachts weggesendet. Am Mittwoch ist Thomas Heise mit 68 Jahren gestorben.

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