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Aus: Ausgabe vom 01.06.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
Literatur

»Wir sind Sinti«

Von den Nazis verbrannt, in der DDR Schullektüre: Alex Weddings Jugendroman »Ede und Unku« über eine besondere Freundschaft
Von Gerd Schumann
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Robert Ritter, Leiter der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« (RHF), entnimmt im Januar 1938 eine Blutprobe für rassistische Untersuchungen zur Erfassung von Roma und Sinti

Die Geschichte von Unku (gesprochen: Unko) gehört zu den traurigsten der Welt. Das konnten allerdings weder die Autorin Margarete »Grete« Weiskopf, geborene Bernheim, die das Buch 1931 unter dem Pseudonym Alex Wedding veröffentlichte, noch die gesamte, vielköpfige Leserschaft ahnen. Dem Happyend in diesem wunderbaren, berührenden wie spannenden Jugendroman folgte in der Wirklichkeit eine Tragödie, die jegliche Dimension des Vorstellbaren sprengte – und auch mir, der ich ihn erst vor ganz kurzer Zeit kennenlernte und seitdem dazu recherchierte, kamen Wut und Tränen beim Nachdenken über Unku und ein Schicksal, das Hunderttausende Roma und Sinti erleiden mussten.

Grete Weiskopf lernte Unku und deren Familie 1929 kennen, als sie bei herrlichem Frühlingswetter am Stadtrand von Berlin nahe einer Laubenkolonie »ein paar Zigeunerwagen, die hier bislang nicht gewesen waren«, bemerkte. So schilderte sie es 1954 im Vorwort zur ersten Wiederauflage von »Ede und Unku« nach dem Zweiten Weltkrieg. Neugierig näherte sie sich dem Platz, als aus der Tür des größten Wagens, frisch grün gestrichen und mit Reitpeitschen und Hufeisen verziert, ein etwa zehnjähriges barfüßiges Mädchen kletterte, das in einem abgerissenen Kleid steckte »und doch elegant in ihrer Geschmeidigkeit« wirkte. Weil sie »so dunkel war« wie ein schwarzer Lurch, wie eine Unke, hatte ihre Mutter sie so genannt, erzählte später Frieda Franz, eine Sinteza, die Unku persönlich kannte.

Weiskopf: »Ich konnte meinen Blick nicht abwenden von den großen spitzbübischen Augen unter der seidigen Ponyfrisur, von dem breiten, beschwingten Mund, der beim Lachen kräftige weiße Zähne sehen ließ.« Beide schlossen »innig Freundschaft«, und schon bald verbrachten Unku, deren hübsche Mutter Turant, ihre pfeiferauchende Großmutter und einige Vettern und Basen so manche Stunde in der Wohnung von Grete und Franz Carl Weiskopf in Berlin-Reinickendorf.

Das fiel auf damals, es würde wohl ebenso heute auffallen, in einer »spießigen Nachbarschaft« und einem Klima, in dem sich die bereits latent vorhandene antisemitische und antiziganistische Diskriminierung durch die Hetze der Nazipartei noch tagtäglich verschärfte und als Feindbild in immer mehr Köpfen verfestigte.

»Sie sind wohl ’ne Zigeunersche« wurde Grete Weiskopf schließlich von einer Frau im Tabakladen an der Ecke gefragt. Die junge Kommunistin jüdischer Herkunft, geboren 1905 in eine kleinbürgerliche Salzburger Familie, antwortete »stolz«, wie sie sich erinnert, »ja, das bin ich«. Schließlich hatte sie »in ihren Zigeunerfreunden interessante, liebenswerte Menschen« entdeckt, »die das Leben als Nomaden führen mussten«, als Fremde in ihrer Heimat seit Jahrhunderten, von Vorurteilen, Verachtung, Misstrauen und Hass begleitet.

Ede Sperber hält dagegen, obwohl ebenfalls nicht frei von Vorurteilen. Unkus Schulfreund, ein Lausbube aus dem Berliner Arbeitermilieu mit seinem ausgeprägten Gespür für Recht und Unrecht, stellte sich wacker an ihre Seite: Als gleichaltrige Jungs Unku als »Zigeunerin« anmachten, hatte er – im wahrsten Sinne des Wortes – zugeschlagen mittels einer Backpfeife. So entstand die Freundschaft zwischen ihm und der jungen Unku, geboren am 4. März 1920 in Berlin-Reinickendorf.

Sie und Ede haben in der Folge allerhand Abenteuer in der Weimarer Zeit der schweren Depression, von Massenarbeitslosigkeit und Verelendung zu bestehen, verhindern, dass Edes arbeitsloser Vater, ein Metalldreher, zum Streikbrecher wird, besorgen mit allerlei Tricks Ede ein Fahrrad auf Pump, das er braucht, um als Zeitungsausträger etwas Geld zu verdienen, notfalls wäre er auch Stiefelputzer oder Streichholzjunge geworden, und jagen in einer wilden Jagd einem Fahrraddieb hinterher, den sie schließlich auf dem Pferdewagen von Unkus Onkel Nucki einholen … Sie treiben sich auf Rummelplätzen herum, und landen immer wieder bei Unkus Familie, im Wohnwagen im Hof der Papierstraße 4.

Tatsächlich gehörte auch Ede zu den Besuchern der Familie Weiskopf, und in ihrem Buch, in dem die Autorin ihre Notizen über ihre Eindrücke und die vielen Begegnungen authentisch verarbeitet, erzählt Alex Wedding davon, wie nicht nur Ede einiges vom Sinti-Leben mitbekommt, sondern sich dort eines Tages der von der Polizei gesuchte Streikende versteckt, Vater Klabunde, ein revolutionärer Arbeiter, der Streikposten bei der AEG gestanden hat und untertauchen muss. Klabundes blickiger Sohn Maxe, Edes bester Freund, ist anders als die anderen Zeitungsboten, aufgeschlossen auch Fremdem gegenüber, und also auch »zum Platzen neidisch« auf Ede wegen dessen Freundin Unku. Maxe wäre »vor Bewunderung fast geschmolzen« und sagt nur: »Junge, Junge«, schreibt Alex Wedding.

Diese praktische Solidarität zwischen drangsalierten Streikenden und diskriminierten Sinti trotzt einer verblendeten Umgebung aus Hass, Gewalt und Willkür – Solidarität, ein Lebensgefühl, das in der Arbeiterbewegung als »Internationalismus« propagiert wurde und über lange Zeit und weltweit auch im Widerstand zu einem prägenden Leitmotiv des antifaschistischen Kampfes werden sollte. Sie leuchtete hier und da weiter auf, aber immer seltener. Und den Genozid an den Roma und Sinti zu verhindern, war sie letztlich nicht in der Lage. Wohl aber konnte sie die Sinne für Völkerfreundschaft öffnen, so wie es Alex Wedding mit ihrem Buch gegen den Trend des Zeitgeistes versucht hatte.

Die Originalausgabe von »Ede und Unku«, das die Schriftstellerin zur Wegbereiterin der sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur machte, erschien im Malik-Verlag von Wieland Herzfelde. Umschlag und Fotoillustrationen gestaltete dessen Bruder John Heartfield. Die Auflagenhöhe ist nicht bekannt, doch gehörte es schnell zu den beliebtesten Kinderbüchern der ausgehenden Weimarer Republik und landete umgehend auf der schwarzen Liste unerwünschter Kunst und Kultur der Nazis. Am 10. Mai 1933 warfen sie es auf den Scheiterhaufen für Bücher, den sie auf dem Berliner Opernplatz errichtet hatten, geächtet, verboten, verbrannt, zu Asche geworden wie andere großartige Zeugnisse humanistischer Literatur. Verschwunden war es nicht. Nunmehr folgten im Ausland Übersetzungen von »Ede und Unku«: dänisch 1934, englisch 1935, tschechisch 1936.

Grete und ihr Mann Franz Carl Weiskopf, ebenfalls ein jüdischer Kommunist, den sie 1928 in Berlin geheiratet hatte, befanden sich zu dem Zeitpunkt längst im Exil, waren 1933 zunächst nach Prag emigriert, wo Grete unter anderem die Neuen Deutschen Blätter herausgab, zu deren dezentral arbeitendem Redaktionsteam Anna Seghers (Paris), Oskar Maria Graf (Wien), Wieland Herzfelde (Prag) und Jan Petersen (Berlin) gehörten, bis die Monatsschrift aus finanziellen Gründen 1935 eingestellt werden musste.

F. C. Weiskopf arbeitete als Chefredakteur der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung, derweil seine Frau weiterschrieb als Alex Wedding – das Pseudonym hatte sie einst von den Arbeiterquartieren am Alexanderplatz und dem »Roten Wedding« abgeleitet. 1936 erschien bei Malik »Das Eismeer ruft«. Ihr Weg führte die Weiskopfs weiter über Moskau und Paris schließlich nach New York, wo sie unter ärmlichen Bedingungen überlebten. Grete verdiente Geld, indem sie Schmuck anfertigte, gemeinsam waren sie und ihr Mann im »Antifaschistischen Komitee« zur Rettung gefährdeter Emigranten aktiv.

Nach der Emigration wurde der am 19. März 1900 in Prag geborene F. C. Weiskopf Gesandter der Tschechoslowakischen Republik in Washington, Stockholm und in der Volksrepublik China, Grete arbeitete dort als Dolmetscherin und Korrespondentin. 1953 ging das Ehepaar in die DDR, wo es 1954 eine der neuen Wohnungen am Strausberger Platz im Ensemble der »Stalinallee« (seit 1961: Karl-Marx-Allee) bezog. Sie wurde Mitglied der Akademie der Künste und schnell zu einer Verfechterin der Literatur für jüngere Leserinnen und Leser.

Diese wie auch ihre Autoren würden »nicht für voll genommen«, mahnte sie 1956 auf dem Schriftstellerkongress. Das sei Fakt, »obwohl wir heute schon über eine Anzahl von Werken der Kinder- und Jugendliteratur verfügen, die es mit der Literatur für erwachsene Leute ideologisch und künstlerisch aufnehmen können und die eine nachhaltige erzieherische Wirkung auf große Massen von Kindern und Jugendlichen« haben.

In der Tat kann die Wirkung von gut geschriebenen, aufklärerischen Kinderbüchern für die Entwicklung Heranwachsender nicht hoch genug eingeschätzt werden, gerade auch heute im Zeitalter von Oberflächlichkeit, Ellenbogenmentalität, Egoismus und Vereinzelung, die auch durch die massenhafte Verbreitung von verdummender Unterhaltungselektronik befördert wird. Grete Weiskopfs inhaltlicher Ansatz, durch Aufklärung gewachsene Vorurteile mindestens ins Wanken zu bringen, bleibt aktuell, und dass sie ihn in der DDR weiter verfolgte unbedingt wichtig zur Überwindung der faschistischen Gehirnwäsche in Fortsetzung der Hetze gegen Juden und »Zigeuner« – eine von Klischees überlagerte Fremdbezeichnung; so haben sich die Roma und Sinti niemals selbst genannt. Zu Beginn des Defa-Films »Als Unku Edes Freundin war« (Helmut Dziuba, 1981) sagt Unku, als sie Ede erstmals begegnet: »Zigeuner ist ein Schimpfwort. Wir sind Sinti.«

Die erste Neuauflage von »Ede und Unku« erschien in der DDR 1954 und wurde schnell zum Bestseller, erreichte mehrere Auflagen, in den siebziger Jahren stand das Buch im Lehrplan für die fünfte Klasse. Schätzungsweise fünf Millionen Kinder haben es im Unterricht gelesen, darunter auch Janko Lauenberger und Juliane von Wedemeyer, damals beide elf Jahre alt, und es stellte sich heraus, dass den späteren Berliner Jazzgitarristen Janko »Django« Lauenberger (Sinti Swing, Radio Django) mehr mit Unku verband als die Empathie mit ihrem Schicksal. Unku, die im behördlichen Geburtenregister als Erna Lauenburger eingetragen wurde, ist Teil seiner Familienbiographie, wie sämtliche im Buch auftauchenden Sinti. Unkus Cousine Kaula (bürgerlicher Name: Helene Ansin) etwa ist Janko Lauenbergers Großmutter.

Er selbst, Jahrgang 1976, wuchs in Berlin-Lichtenberg auf, bei seinem Großvater, der gezeichnet war von dem, was ihm zuvor im KZ angetan worden war, gesundheitlich, psychisch angeschlagen, so Janko Lauenberger im Gespräch mit Berliner Jugendlichen der Refik-Veseli-­Schule. Ein kleiner, empfehlenswerter Film davon ist auf Youtube abrufbar (Bildungsbausteine e. V., 27. Mai 2023). Insgesamt habe er »schöne Erinnerungen« an seine Kindheit, doch klingen rückblickend auch alltägliche Probleme, zum Beispiel aus dem Schulalltag, an. »In der DDR gab es nicht viele Jungs mit brauner Haut und schwarzen Haaren«; und für die anderen »war es nicht normal, dass ich da war«.

Es habe immer auch welche unter den Schülern gegeben, »die mich gehänselt haben«. Nach einem Schulwechsel erlebte er ein aufgeklärteres Klima. Jedenfalls habe »das Thema, dass ich Sinto bin (…) keine Rolle gespielt. Die haben mich in erster Linie als Mensch gesehen«, so Lauenberger. Bezüglich des Status von Sinti habe die DDR gesagt, »es gibt keinen Unterschied zwischen Sinti und Deutschen. Wir sind alle DDR-Bürger, und wir sind alle dasselbe«.

Jankos Großmutter Kaula Ansin bestätigte 1966 gegenüber dem Journalisten Reimar Gilsenbach auch die Freundschaft von Ede und Unku: »Der Ede war ihr bester Schulkamerad. Der kam immer zu uns, da haben sie gespielt.« An den im Wohnwagen versteckten Arbeiter auf der Flucht erinnerte sie sich ebenfalls, schrieb Juliane von Wedemeyer später, nachdem sie sich gemeinsam mit Lauenberger auf Unkus Spur begeben hatte (Spiegel Online, 2. Januar 2019). Als Ergebnis ihrer Recherchen erschien das Buch »Ede und Unku – die wahre Geschichte«.

Die Wahrheit ist: Im Zuge der Verfolgungen nach Erlass der Nürnberger Rassengesetze 1935 – der Paragraph zu den »Zigeunern« trat dann 1936 in Kraft. Vorgeblich sollten sie das »Blut der Deutschen« schützen, in Wirklichkeit gaben sie das Signal zum Völkermord. Unkus Familie hält sich zunächst in Dessau-Roßlau auf und lebt später unter elenden Bedingungen in einem Sammellager für Roma und Sinti in Magdeburg. Dort bringt sie 1938 ihre Tochter Marie zur Welt. Deren Vater, Otto Schmidt, genannt »Mucki« und Unkus große Liebe, wird als »Asozialer« ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Seine Tochter wird er nie sehen: Bei medizinischen Experimenten erhält der Gefangene im November 1942 eine tödliche Spritze.

Roma und Sinti werden ab 1939 erkennungsdienstlich erfasst und dürfen ihren Aufenthaltsort nicht mehr verlassen. Unku muss sich als Zwangsarbeiterin in einer Textilfabrik schikanieren lassen. Sie und Marie werden als »Zigeunermischlinge« eingestuft. 1942 kommt ihre zweite Tochter, Bärbel, zur Welt. Am 1. März 1943 verhaftet die Polizei alle Bewohner des Magdeburger Sammellagers, am 2. März müssen Unku und ihre Töchter in den Zug nach Auschwitz steigen. Das letzte Dokument, das Auskunft über sie gibt, ist die Bestätigungsliste zur Teilnahme an einer Fleckfieberuntersuchung in Auschwitz-Birkenau – Unku mit tätowierter Häftlingsnummer »Z633«, Bärbel mit »Z634«, Marie mit »Z635«. »Z« wie Zigeuner.

Bärbel stirbt zwei Monate nach der Ankunft im KZ. Ihr folgt die fünfjährige Marie, und Überlebende, darunter Kaula, berichten, Juliane von Wedemeyer schrieb es auf: »Unku sei, als sie von ihrem Tod erfahren habe, schreiend aus der Baracke gerannt und habe zu tanzen begonnen. Ihr Schreien sei ein schauriges Lachen geworden, das alle Anwesenden erstarren ließ. Schließlich hätten Männer sie weggeführt. Die einen sagen, Mengele habe ihr eine tödliche Spritze gegeben, andere haben einen Schuss gehört. Ihr Todesdatum steht nicht genau fest, sie starb zwischen dem 23. März und dem 15. April 1944.«

Als Grete Weiskopf ihre Nachbemerkung zur ersten DDR-Wiederauflage von »Ede und Unku« schrieb, hatte sie »aller Vernunft zum Trotze« die »Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Ede und Unku noch immer nicht ganz aufgegeben. Oft eile ich hinter Fremden her, deren Bewegungen, Haltung, Haar oder Stimme mich an sie erinnern. Aber dann sind sie’s nicht«.

Ein Wiedersehen mit Unku konnte es nicht geben. Ede indes stand eines Tages vor ihrer Tür, »ein prachtvoller Mensch«, von dem sie sich nicht vorstellen konnte, etwa »umgefallen« zu sein, »denn er hatte das Herz auf dem rechten Fleck und dazu ein gutes Köpfchen«, wie sie schreibt, und der ihr nun erzählte, Grete nie vergessen zu haben. Nazi sei er »selbstverständlich« nie geworden. »Im Krieg war ich Soldat und zu den Russen übergelaufen.« Von dort habe er auch seine Frau »mitgebracht«.

Vater Klabunde war lange im KZ Buchenwald und arbeitete, so Grete Weiskopf, nach dem Krieg als Dreher bei der AEG in Westberlin, »ein aufrechter Kämpfer«. Und Unku, Großmutter, Turant, die Vettern und Basen? Grete Weiskopf: »Fragt lieber nicht!« Es klingt verzweifelt.

Die Autorin starb 60jährig am 15. März 1966 und wurde auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde neben ihrem bereits 1955 verstorbenen Mann beerdigt. Anna Seghers über die Verstorbene: »Wir spüren jetzt an unserer Trauer, dass wir etwas Wichtiges, sehr Kostbares verloren haben. Was sie erlebt hat, war zu Geschichten und Märchen geworden, zu etwas Buntem und Seltsamem.«

Im »Haus des Kindes« am Strausberger Platz 19, in dem Grete und F. C. Weiskopf gewohnt hatten, lebte auch Irene Henselmann mit ihrem Mann, dem Architekten Hermann Henselmann. In ihrem Erinnerungsbuch »Einsam war ich nie« schrieb sie über Grete Weiskopf: »Zwischen unseren Wohnungen entwickelte sich bald so etwas wie eine Ameisenstraße, auf der unsere Kinder hin und her wanderten … eigentlich alle Kinder des Hochhauses. Grete war ungeheuer kinderlieb, sie hatte keine eigenen, was man bei dem unruhigen Leben, das sie geführt hat, versteht. Sie war eine hervorragende Köchin. Zur Weihnachtszeit zogen die Düfte ihrer Kuchen und Kekse durchs Haus. Alle Kinder durften beim Backen helfen, zusehen oder kosten. Als sie starb, vermachte sie jedem Kind, das zu dieser Zeit im ›Haus des Kindes‹ wohnte, tausend Mark.«

Die Gedenktafel am »Haus des Kindes« verschwand in den »Wendewirren« nach dem Ende der DDR. Im Berliner Stadtteil Friedrichshain, in dem einst die Familie Unkus ihr Winterlager aufgeschlagen hatte und wo Unku und Ede zur Schule gingen, gibt es inzwischen einen »Ede-und-Unku-Weg«; die zum Schuljahr 1966/77 in der Singerstraße 87 eingeweihte »Alex-Wedding-Oberschule« existiert nach Zusammenlegung mit einer anderen Schule nicht mehr. Der seit 1967/68 verliehene »Alex-Wedding-Preis« für Kinderliteratur der Akademie der Künste wurde letztmals 2007/08 vergeben. 2024 stiftete die Akademie, dotiert mit 5.000 Euro, einen »Weiskopf-Wedding-Preis«. Er wird »für sprachkritische und sprachreflektierende Werke verliehen oder für Kinder- und Jugendbücher«. An ihrem Geburtshaus in Salzburg wurde 2007 eine Erinnerungstafel angebracht.

In der alten Bundesrepublik kannte kaum jemand Alex Wedding und ihr Werk. Eine Ausgabe von »Ede und Unku« wurde 1973 herausgegeben, aber wenig verkauft. Auch heute ist der Roman lediglich antiquarisch oder als Hörbuch erhältlich, das Heike Makatsch 2015 einlas.

Alex Wedding: Ede und Unku. Ein Roman für Jungen und Mädchen. Malik-Verlag, Berlin 1931; erste Wiederauflage in der DDR 1954, anschließend verschiedene DDR-Verlagsauflagen (antiquarisch erhältlich); Neuauflage im Verlag Neues Leben, Berlin 2005, 127 Seiten

Alex Wedding, Heike Makatsch: Heike ­Makatsch liest »Ede und Unku«. Ein Roman von Alex Wedding. Hörbuch. Verlag Media-Net, Kassel 2015, drei CDs, 19,99 Euro

Janko Lauenberger, Juliane von Wedemeyer: Ede und Unku – die wahre Geschichte. Das Schicksal einer Sinti-_Familie von der Weimarer Republik bis heute. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2019, 240 Seiten, 20 Euro

Gerd Schumann lebt und arbeitet als Autor in Berlin und Mecklenburg. Er war langjähriger Leiter des Auslandsressorts der jungen Welt. Jüngste Buchveröffentlichungen: »Kaiserstraße. Der deutsche Kolonialismus und seine Geschichte«, »Joschka Fischer. Wollt ihr mich oder eure Träume?« (beide 2021). Zuletzt an dieser Stelle schrieb Schumann am 17./18. Februar 2024 »Wege durch den Februar. Auf dem Gleis der Geschichte unterwegs im Roten Wien der Zwischenkriegszeit«

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