»Ich war zu milde«
Von Constanze und Dieter KraftNicht um Daten kann es gehen, wenn an den reformierten Theologen Dieter Frielinghaus erinnert wird, nicht um Ereignisse, Bilder oder einen Lebenslauf. Das alles kann man nachlesen. An ihn zu erinnern, bedeutet, die Achillesferse einer Gesellschaft zu bedenken, im Kleinen wie im Großen. Er kämpfte um Frieden, und je friedloser die Welt wurde, um so mehr. Doch wie ein bitteres Resümee klang es im Jahr 2020: »Ich war zu milde.«
Ein an Widersprüchen zu bändigendes Leben lag hinter ihm: sein Kindersoldatendasein, der Wechsel von der Bundesrepublik in die DDR in den 50er Jahren, der jahrzehntelange Kampf um eine friedliebende Kirche in der DDR, sein Entsetzen über die Entwicklungen der Bundesrepublik. »Die Behinderungen zum 8./9. Mai (2024) bedrücken uns beide sehr. Gefühlt haben wir uns wie in einem Polizeistaat«, meinte seine Frau.
Dabei war Dieter Frielinghaus nicht nur ein unerbittlicher Analyst und Kritiker des politischen Geschehens. Er war und blieb bis zuletzt verankert in der Botschaft der Bibel, dieser hochaktuellen Zeitung der Antike. Ihr entnahm er sein Festhalten an Gerechtigkeit, seinen Maßstab für das Ergehen der Nichtprivilegierten. Weil er natürlich wusste, dass Frieden der Ausgangspunkt jeglicher Entwicklung ist, gehörten Bibel und sozialistische Politik für ihn unauflöslich zusammen. Doch die Haltung der Kirche zu Friedensfragen hat ihn immer stärker erbost. Wie ein Manifest klingt sein Schreiben an den Friedenbeauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschland aus dem Jahr 2019:
»(…) Nach dem Mehrheitsbeschluß der Vereinten Nationen von 2017, die nuklearen Waffen zu verbieten, sollten wir verlangen, daß die Bundesrepublik ihm beitritt. Indessen wissen die meisten Bürger nicht einmal, daß es ihn gibt. Denn Regierung und Medien halten den Deckel darüber und folglich (?) die Kirche auch.
Den jährlichen Bericht der GKKE (Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung) zum Rüstungsexport kenne ich nur aus sozialistischen Tageszeitungen, welche die Kirche dabei zu loben pflegen. Diese aber ist offensichtlich darauf bedacht, dass die Gemeinden sich nicht damit beschäftigen sollen. So sind wir gewollt-ungewollt mitschuldig an dem schrecklichen Tod so vieler Kinder und Erwachsener auch durch deutsche Waffen in allen Kriegen der Welt.
Daß es im Grunde die Wirtschaft der Reichen ist, die das Elend der Menschen und die Zerstörung der Natur erzeugt, wissen und verschweigen die ›Großen‹, viele Menschen wissen und sagen es längst, die (Kirchen-)Gemeinden aber wissen es am wenigsten und sollen es unter keinen Umständen sagen. Gerade ihre Großen müssen wissen und wissen auch, daß es in allen diesen Fragen um das buchstäbliche Überleben aller geht. Aber selbst als im vorigen Jahr bei der Kriminalisierung ›privater‹ Seenotretter die Kirchenspitze einen Augenblick lang Kritik an der Politik zeigte, ging sie nicht auf die Ursache der Not und so auch nicht der bestimmt noch anwachsenden Flucht verstörter Menschen ein.
Auch unsere Mächtigen sind dabei, Rußland mit Wort und Tat vor aller Augen zu bedrohen und noch dreist zu behaupten, es sei umgekehrt. Damit stacheln sie weitere atomare ›Modernisierung‹ an. Und die Kirche schreit nicht: Schwerter zu Pflugscharen! Sie haucht es nicht einmal (…)«
Das Schreiben blieb unbeantwortet. Es dürfte nicht übertrieben sein, mit Dieter Frielinghaus festzustellen, dass die Kirchen dem westlichen Kapitalismus so ergeben waren und sind, dass sie bis in die Bedeutungslosigkeit hinein verschwinden. Denn wieder fordern Bischöfe Waffen – diesmal für die Ukraine.
Und obwohl er sich darüber erregte, »daß viele Abgeordnete offenbar nicht wissen, was eine Atombombe ist, noch mehr darüber, daß Bischöfe und Pastöre darüber schweigen«, konnte Dieter Frielinghaus auch Hoffnung verbreiten. Aufmunternd hielt er Freunde dazu an, »(…) etwas zu schreiben, und sei es für die Schublade, denn die Zeit kommt, daß der Terror der Herrschenden nicht überhandnimmt und uns etwas einfällt, die Menschen zum Protestieren zu bringen.«
Unbestechlich war seine Haltung. Mit Bescheidenheit und Großzügigkeit begegnete er den Lebenden. Gern hätte er eine Büste von Fidel Castro besessen. Dies blieb ihm leider verwehrt. Dieter Frielinghaus verstarb am 16. Mai 2024 im Alter von 95 Jahren.
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Leserbrief von Horst Jäckel aus Potsdam (5. Juni 2024 um 12:10 Uhr)Es ist lobenswert, dass die junge Welt den Nachruf von Constanze und Dieter Kraft zur Würdigung von Dieter Frielinghaus veröffentlicht hat. Schon in unserem ersten Band »Spuren der Wahrheit: Vereinnahmung der DDR« (2003), heruasgegeben von der unabhängigen Autorengemeinschaft »Als Zeitzeugen Erlebt«, kommt Frielinghaus zu Wort: Er hielt am 23. Oktober 1998 in Berlin eine Rede anlässlich der Verleihung des Menschenrechtspreises der Gesellschaft zum Schutz für Bürgerrecht und Menschenwürde an Fidel Castro. In unserem fünften Zeitzeugen-Band ist er mit einem Text vertreten, in dem er die Professoren Dr. Hanfried Müller und Dr. Rosemarie Müller-Streisand würdigt, als christliche Sozialisten, Friedens- und Menschenfreunde.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (29. Mai 2024 um 17:19 Uhr)Dieter Frielinghaus war ein großartiger Mensch. Ein guter Christ wie er im Buche steht, wenn man es denn an den richtigen Stellen aufschlägt und mit dem Herzen zu lesen versteht. Einer, der nie Genosse war und doch als ein unendlich treuer und wertvoller Zeitgenosse in Erinnerung bleiben wird. Ihm kann sein Gott mit bestem Gewissen gnädig sein.
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