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Aus: Ausgabe vom 04.06.2024, Seite 5 / Inland
Kita-Bericht vom Paritätischen

Erziehung durch Fachferne

Studie: 125.000 offene Stellen in Kitas. Regierung setzt auf Amateure
Von Ralf Wurzbacher
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Wer Erzieher werden will, muss zum Teil immer noch Schulgeld bezahlen

In Deutschlands Kindertageseinrichtungen könnten zwischen 50.000 und 90.000 Fachkräfte fehlen, wohlgemerkt bis 2030, hatte Bundesfamilienministerin Elisabeth Paus (Bündnis 90/Die Grünen) vor zwei Wochen gewarnt. Eine düstere Prognose? Nein, wohl eher Schönfärberei. Der am Montag vom Paritätischen Wohlfahrtsverband veröffentlichte »Kita-Bericht 2024« hält eine andere Hausnummer parat: Demnach sind schon heute 125.000 Stellen unbesetzt, und es dürfte noch schlimmer kommen. Weil Personalmangel noch mehr »Überlastung der vorhandenen Mitarbeiterinnen« bedeute, drohten »weitere Personalausfälle« – ein »doppeltes Problem«, wie Juliane Meinhold, Leiterin der Verbandsabteilung für Soziale Arbeit, in einer Medienmitteilung erklärte. »Und die Kinder haben das Nachsehen, weil Aktivitäten und Förderung eingeschränkt werden.«

Die im Zweijahresrhythmus vorgelegte Studie basiert auf einer Umfrage aus dem Vorjahr unter 1.760 Kitas im gesamten Bundesgebiet und liefert damit ein verlässliches Gesamtbild dazu, wie schlecht es um die frühkindliche Betreuung und Bildung mittlerweile bestellt ist. Einige Kennzahlen: Pro Einrichtung sind im Schnitt 2,6 Stellen vakant. In 72 Prozent der Fälle gehören Überstunden zum Alltag, bei der vorangegangenen Erhebung aus dem Jahr 2021 waren es noch 56 Prozent. Ein Fünftel der abgefragten Kitas kann bestehende Betreuungsplätze nicht belegen, im Mittel 14 Stück. Dabei gaben 68 der Teilnehmer an, schon mit dem tatsächlichen Personalschlüssel den Bedürfnissen der Kinder nicht genügen zu können. Die Lage sei vielerorts »besorgniserregend« und habe sich binnen zwei Jahren »deutlich verschlechtert«, befand Meinhold. »Die bisherigen Bemühungen von Bund und Ländern, die Qualität in Kitas zu sichern, konnten diese Entwicklung nicht aufhalten.«

Bemühungen? Das 2019 in Kraft gesetzte »Gute-Kita-Gesetz« von Paus-Vorgängerin Franziska Giffey (SPD) sollte eigentlich bei den gravierendsten Defiziten ansetzen: Personalnot, hohe Arbeitsbelastung, mangelhafte Ausstattung, unzureichende Finanzierung. Aber konkrete Zielvorgaben gab es nicht, statt dessen eine Art Gemischtwarenladen an »Qualitätsentwicklungsmaßnahmen«, aus denen die Kindergärten frei wählen durften. Damals warnten Experten vor »Dyssynergien«, etwa, dass verlängerte Öffnungszeiten zu schlechteren Personalschlüsseln und größeren Gruppen führen könnten. Die Befürchtungen bewahrheiteten sich, was die Ampelregierung mit ihrem 2023 eingeführten »Kita-Qualitätsgesetz« korrigieren wollte. Dieses sieht strikte Vorgaben bei den Personalschlüsseln vor und Strafen bei Nichtbeachtung. Ergebnis: Um diesen zu entgehen, machen viele Einrichtungen einfach früher zu. Deshalb müssten Eltern inzwischen sogar den Wohnort wechseln, um eine Ganztagsbetreuung für ihren Nachwuchs zu erhalten, berichtete zu Jahresanfang der Norddeutsche Rundfunk (NDR).

Die Misere ist politisch verschuldet. Jahrzehntelange Kürzungsdiktate, schlechte Bezahlung, widrige Arbeitsbedingungen haben den Beruf nachhaltig entwertet. Die in Zusammenarbeit mit der Universität Osnabrück erstellte Studie führt dazu erstmals einen »Kita-Belastungs-Index« auf. Der zeigt, dass 22 Prozent der erfassten Kindertageseinrichtungen »stark mehrfachbelastet« sind. Die wenigsten Beschäftigten halten bis zum regulären Renteneintritt durch, viele scheiden krankheitsbedingt aus oder retten sich in Teilzeit, und immer weniger junge Erzieherinnen rücken nach. Dem sei nur durch »bessere Rahmenbedingungen in der Ausbildung« zu begegnen, befand Meinhold vom Paritätischen. »So sollte grundsätzlich kein Schulgeld mehr gezahlt werden müssen, die Anrechnung von Auszubildenden auf den Personalschlüssel muss aufhören.«

Und was unternimmt die Bundesregierung? Die jüngst von Ministerin Paus präsentierte »Gesamtstrategie Fachkräfte« ähnelt dem Vorgehen im Schulbereich und dem Versuch, den dort grassierenden Pädagogenmangel mit noch mehr Abstrichen bei der Qualität zu beheben. Paus Rezepte lauten: Potentiale »zusätzlicher«, »fachnaher« und »fachferner Gruppen« mobilisieren. Soll heißen: Das Wohl der Kleinsten wird zum Metier von Amateuren.

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