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Aus: Ausgabe vom 04.06.2024, Seite 8 / Inland
Minderjährige Geflüchtete

»Das Asylsystem ist ein Flickenteppich«

Versorgung junger Geflüchteter: Aufnahmestrukturen überlastet, Missstände verbreitet. Ein Gespräch mit Johanna Karpenstein
Interview: Gitta Düperthal
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Weil es zu wenige Plätze für minderjährige Geflüchtete gibt, werden sie in Erwachsenenunterkünften einquartiert

Der »Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge« hat bundesweit fast 700 Fachkräfte zur Versorgungssituation junger Geflüchteter befragt. Was kam dabei heraus?

Die zentralen Ergebnisse der Umfrage spiegeln die Einschätzung der Fachkräfte wider, dass Ängste und Unsicherheiten bei jungen Geflüchteten massiv angestiegen sind: einerseits wegen aktueller Missstände in der praktischen Umsetzung im asyl- und aufenthaltsrechtlichen System sowie andererseits zunehmender Gewalt- und Rassismuserfahrungen im Alltag. Diese Tendenz war bereits in vergangenen Umfragen sichtbar, hat sich nun aber noch mal verschärft.

Wo ist die Lage besonders kritisch?

Das ist nicht so leicht zu beantworten. Das liegt unter anderem daran, dass die Beantwortung der Fragen in den Bundesländern unterschiedlich erfolgt ist. Die Ergebnisse sind daher nicht repräsentativ. Wenig Beteiligung gab es im Saarland. Vergleichsweise positive Berichte gab es aus Baden-Württemberg, Probleme dagegen in Berlin, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt. So ist die Ankunft oft verbunden mit langem Warten auf Erstgespräche. Während dieser Zeit gibt es wenige Bildungsangebote, eine unzureichende Gesundheitsversorgung und einen Mangel an Vertrauensverhältnissen im Unterstützungssystem. Das Asylsystem ist ein Flickenteppich kommunaler Handhabe.

Haben die Fachkräfte konkrete Erfahrungen geschildert?

Gerade bei engagierten Fachkräften stellen sich oft Ohnmachtsgefühle ein. Dieser Einblick ist aus dem qualitativen Teil unserer Studie zu gewinnen. Aufgrund überlasteter Strukturen werden die gesetzlichen Bedingungen mitunter nicht eingehalten. Weil unklar ist, wo Geflüchtete verbleiben können, gibt es im Fall Volljähriger eine Notunterbringung in Obdachlosenunterkünften. Weil es im Bereich der Jugendhilfe zu wenige Plätze für Minderjährige ab 16 Jahren gibt, werden sie in Unterkünften für Erwachsene untergebracht.

Insgesamt bestehen Defizite in der Interessenvertretung durch Jugendämter und Vormundschaften: Es gibt zu wenig Ehrenamtliche, die Ämter sind überlastet. Junge Geflüchtete werden in Verfahrensfragen kaum unterstützt: ob es darum geht, wo sie untergebracht werden, zum Beispiel in der Nähe von Verwandten untergebracht, oder im Fall ihrer Alterseinschätzung. Bei der aufwendigen Perspektivklärung im Asyl- und Aufenthaltsrecht werden sie nur unzureichend begleitet.

Sie machen eine solche Befragung seit 2017 einmal im Jahr. Was hat sich 2023 verändert?

Das Bild ist nicht ganz klar. Etwa 75 Prozent der Fachkräfte sind schon lange in dem Bereich tätig. Jüngere und unerfahrenere Fachkräfte und Quereinsteiger sind mit der komplexen Rechtslage und häufig abgesenkten Qualitätsstandards konfrontiert. Zugänge zu Deutschkursen und zur adäquaten Unterbringung sind laut der Umfrage inzwischen schwieriger als früher. Das liegt aber nicht an irgendwelchen Gesetzesänderungen. Die Rechtsgrundlage besteht weiter, wird aber durch überlastete Strukturen unterlaufen. Nach außen wird kommuniziert, das Problem seien hohe Einreisezahlen. Die sind jedoch niedriger als 2015.

Wer ist für den schlechten Zustand des Asyl- und Aufenthaltssystems verantwortlich?

Auf der politischen Ebene macht sich ein rechtspopulistischer Diskurs breit, der Geflüchteten feindlich gesinnt ist. Zu kritisieren sind die Familienministerien von Bund und Ländern und übergreifend auch andere Ministerien. Diese staatlichen Stellen müssen bessere Bedingungen schaffen, die jeweilige Fluchtbewegungen antizipieren, zu regulären Schutzstandards zurückkehren und mehr Geld in die Hand nehmen. Die soziale und psychosoziale Unterstützungsstruktur ist rückläufig. Das wird dem Schutzanspruch der jungen Geflüchteten nicht gerecht.

Johanna Karpenstein ist Referentin des »Bundesfachverbandes unbegleitete minderjährige Flüchtlinge«

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