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Aus: Ausgabe vom 04.06.2024, Seite 10 / Feuilleton
Oper

Wenn nur die Rente höher wäre

Ausgehen in Russland: Die Oper »Ein Leben für den Zaren« im Mariinski-Theater St. Petersburg
Von Kai Köhler
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Erfreulich werkgetreu (Ensemblefoto)

Die Zeit der Wirren scheint überwunden. Im Jahr 1612 hat Russland endlich wieder einen fähigen Zaren: Michail Romanow, der zum Begründer einer gut drei Jahrhunderte lang herrschenden Dynastie wird. Der polnische Adel aber will das Land im Osten beherrschen und schickt Soldaten aus, die Romanow unschädlich machen sollen. Der neue Zar befindet sich in einem Kloster und ahnt nichts von der Gefahr. Die Polen zwingen den Bauern Iwan Sussanin, ihnen den Weg zu zeigen. Sussanin gelingt es, einen Boten zum Kloster zu schicken, bevor er die Eindringlinge in eine weglose Wildnis führt. Als die Polen die Täuschung bemerken, erschlagen sie den Bauern. Der Zar aber ist gerettet – und damit die russische Selbständigkeit.

Bei der Uraufführung 1836 war Michail Glinkas »Ein Leben für den Zaren« umstritten. Das St. Petersburger Publikum war italienische Oper gewohnt. Nun wurde plötzlich russisch gesungen, und die Komposition bezog sich unüberhörbar auf russische Volksmusik. Schlimmer noch: ein Bauer als Opernheld! Für all das gab es nur wenige Vorläufer. Glinka schlug ein Volkszarentum vor, und das Werk ist voller Chöre und Arien, die (leider etwas länglich) den Monarchen rühmen. Doch der Klasseninstinkt der Skeptiker war intakt. Ein Volk, das den Zaren lobpreist, kann ihn auch tadeln. Am Ende wird der Zar nach seiner Nützlichkeit beurteilt und bei negativem Ergebnis als schädlich beseitigt.

Dies geschah dann auch 1917. Die frühe Sowjetunion mochte mit dem Werk nichts anfangen. In der Stalin-Zeit, in der es abermals um die Abwehr von Invasoren aus dem Westen ging, wurde es unter dem ursprünglich von Glinka vorgesehenen Titel »Iwan Sussanin« und mit textlichen Anpassungen aufgeführt. Seit dem Ende der Sowjetunion gibt es wieder die bis zur Revolution gängige Fassung zu sehen. 2004 inszenierte Dmitri Tschernjakow, gefördert von der deutschen »Stiftung der Freunde des Mariinski-Theaters«, das Werk in St. Petersburg.

Am 9. Mai 2024, zum Festtag des Sieges über den Faschismus, kam diese Inszenierung wieder auf die Bühne. Eine Ansprache zu diesem Anlass war überflüssig. Die Parallelen zur Gegenwart zu finden erfordert keine übermäßige Phantasie: dass die Abwehr einer neuen Gefahr aus dem Westen Opfer verlangt, dass es auf eine Einheit von Bevölkerung und Führungspersönlichkeit ankommt.

Tschernjakow inszeniert seit vielen Jahren im Westen und hat sich mit vermeintlich originellen Ideen, die er den Werken überstülpt, eine stabile Position am Markt erkämpft. Verglichen mit dem, was er etwa an der Berliner Staatsoper auf die Beine stellte, erwies sich die zwanzig Jahre alte russische Inszenierung als erfreulich werkgerecht. Szenisch neu ist allein, dass während der Ouvertüre Sussanin beim Sägen zu sehen ist, wie auch die Hinterbliebenen des Bauern ihre alltäglichen Verrichtungen während der Triumphchöre beim Finale ausführen. Das lässt sich als Kritik begreifen (die Armen bleiben immer elend, egal, wer siegt), aber auch als Hinweis auf die Bedeutung der Arbeit als Basis für den Überbau.

Wie festlich war das Publikum gestimmt? Im Vorfeld wurde der Verfasser gewarnt, er würde ohne Krawatte ein Nichts sein – doch so arg kam es nicht. Anders als bei Opernpremieren in Deutschland, gab es keine Ausreißer nach oben mit Abendkleid oder Smoking; es gab wenige Ausreißer nach unten mit Jeans und T-Shirt. Geflüster und der Gebrauch von Smartphones während der Aufführung ärgerten etwas mehr noch als in Deutschland, doch betrifft das ein paar Dutzend undisziplinierter Leute von etwa zweitausend. Und wer kam in die beinahe ausverkaufte Vorstellung? Schwer zu sagen. Verglichen mit Berlin, waren die Preise für einen Platz in einem weltberühmten Opernhaus lächerlich. Gemessen an einer russischen Rente, dürften Karten dennoch kaum erschwinglich sein. In das Pausenrestaurant zu den vorbestellten Essen gingen ausschließlich die bestgekleideten Besucher.

Auffällig waren die Sicherheitsmaßnahmen. Wie an den Eingängen der Metro und sämtlicher Museen findet auch in der Oper eine flughafenartige Kontrolle statt. Und: Kinder, geduldig während der gut vier Stunden Glinka, noch zahlreicher (und jünger) zwei Tage später bei Sergej Prokofjews Märchenoper »Die Liebe zu den drei Orangen«. Aufgeführt wurde eine Inszenierung Alexander Petrows von 1991, ein wirksames Bühnenspektakel, das das absurde Geschehen keinesfalls mit tieferem Sinn belädt. Der Schauwert ist hoch, die Personenführung manchmal arg wuselig. Das Gesehene, wie ein Begleiter vorschlug, als »altbacken« zu bezeichnen trifft die Sache aber nicht. Offensichtlich ging es Petrow nicht darum, etwas nie Entdecktes herzuzeigen – er wollte das Werk angemessen und phantasievoll auf die Bühne bringen; ein hierzulande selten gewordener Ansatz.

Die Qualität von Orchester und Solisten war vorauszusetzen und muss hier nicht eigens gewürdigt werden. Nach deutschen Maßstäben fiel der Beifall dennoch knapp aus. Dies muss freilich auf keine Enttäuschung hinweisen: Welcher Grad an Jubel als Lob gilt, ist nach Ort und Zeit unterschiedlich.

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