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Aus: Ausgabe vom 04.06.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Gewohnte Verfremdung

Komplexität des gelebten Lebens: Todd Haynes’ neunter Spielfilm »May December«
Von Holger Römers
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Julianne Moore (l.) als Gracie Atherton-Yoo und Natalie Portman als Elizabeth Berry

Die Hauptfiguren von »May December« haben weiß Gott größere Probleme als die Gefahr, dass für einen bevorstehenden Grillabend der Würstchenvorrat nicht ausreichen könnte. Entsprechend kurios wirkt es, dass die von Gracie (Julianne Moore) beim gedankenverlorenen Blick in den Kühlschrank geäußerten Zweifel durch einen plötzlichen Zoom und bedeutungsschwere Musik unterstrichen werden. Das Missverhältnis zwischen der Banalität dieser gemurmelten Bemerkung und ihrer dramaturgischen Betonung ist so befremdlich, dass, kaum dass der Film begonnen hat, sein Inhalt und seine Form sogleich unter ironischen Vorzeichen wahrgenommen werden. Doch die so geweckten Erwartungen werden in den folgenden knapp zwei Stunden bezeichnenderweise (fast) nie erfüllt. Jedenfalls behandelt Regisseur Todd Haynes die im Zentrum seines neunten Spielfilms stehende Skandalgeschichte mit nuanciertem Ernst. Vereinzelte Übertreibungen richten sich statt dessen selbstreflexiv auf den Anspruch, im Rahmen eines Spielfilms der Komplexität gelebten Lebens gerecht zu werden. Es geht um den aus US-Klatschmedien bekannten realen Fall der Lehrerin Mary Kay Letourneau, die für ihre Liebesbeziehung zu einem 13jährigen Schüler 1997 zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, was dann der Autorin Samy Burch den Anstoß gab, ein Drehbuch zu verfassen, das lange in der Schublade bleiben musste.

In Haynes’ Film ist nun die Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman) offenbar vor allem dafür bekannt, in einer erfolgreichen Fernsehserie die Hauptrolle einer Tierärztin zu verkörpern. Höhere Ambitionen bieten ihr den Anlass, nach Georgia in die Stadt Savannah zu kommen, um sich einen konkreten Eindruck von der Lebenswelt jener Frau zu verschaffen, die sie bald in einem – Zitat – »Independent Film« spielen wird. Allerdings war jene Frau – Gracie – schon einmal Gegenstand eines schmierigen Fernsehfilms gewesen. Dessen Produktionsfirma hatte der freiberuflichen Tortenbäckerin, die zu Hause die Bestellungen abarbeitet, genug Geld für ihre Persönlichkeitsrechte gezahlt, um die Finanzierung eines schmucken Eigenheims zu ermöglichen. Das anhaltende öffentliche Interesse an ihrer Person erklärt sich mit der Haftstrafe, die Gracie vor gut zwei Jahrzehnten wegen der gerade begonnenen sexuellen Beziehung zu ihrem jetzigen Ehemann Joe (Charles Melton) antreten musste: Der war damals nämlich erst 13.

Diese Straftat wird bezeichnenderweise nur aus der Distanz geschildert. Gracies einstiger Ehemann sowie ein Sohn aus erster Ehe und ein Anwalt lassen im Gespräch mit Elizabeth die damaligen Ereignisse Revue passieren. Deren Abbildung beschränkt Haynes indes auf vorgebliche Zitate aus anderen Medien: auf reißerische Illustriertengeschichten, die die Schauspielerin bei ihrer Recherche durchblättert; auf einen Ausschnitt aus besagtem TV-Film; und abschließend auf Rohmaterial aus dem mit Elizabeth gedrehten Film.

Allerdings weckt »May December« auch sonst Assoziationen an die TV-Ästhetik vergangener Jahre. Das mag daran liegen, dass diffuses Sonnenlicht die Digitalbilder von Kameramann Christopher Blauvelt regelmäßig aufweicht. Und es mag daran liegen, dass ein bescheidenes Budget offenbar zu schneller Arbeit an nur 23 Drehtagen drängte. Wenn man ihr filmhistorisches Vorbild nicht spontan erkennt, lassen sich aber auch die erwähnten Klavierakkorde, die ab der Titelsequenz immer wieder dramatische Akzente setzen, als vermeintliche Seifenopernanspielung missverstehen.

Tatsächlich handelt es sich bei dieser Musik jedoch um Michel Legrands Originalkomposition für Joseph Loseys Cannes-Gewinner »The Go-Between« (1971), die Marcelo Zarvos bei seiner Neuorchestrierung nur unwesentlich abgewandelt hat. Und für die gegenseitige Bespiegelung der beiden Protagonistinnen in »May December« stand niemand Geringeres Pate als Ingmar Bergman, vor allem dessen »Persona« (1966).

Diese Diskrepanz zwischen den Niveaus der vermeintlichen und der tatsächlichen Referenzen lenkt die Aufmerksamkeit um so subtiler auf die Frage, in welcher Form sich die erzählte Geschichte fassen lässt – oder eben nicht. Vor allem Szenen, in denen die Kamera in der jeweiligen Szene an der Stelle eines Spiegels steht, suggerieren intime Einblicke. Dass die Erzählperspektive auf Gracie, Elizabeth und Joe verteilt ist, macht indes bewusst, wie viel den jeweils anderen verborgen bleibt – und wie viel auch uns Zuschauern. Da die Inszenierung seit den Anfangsminuten unter dem Vorzeichen der in Haynes’ Filmen gewohnten Verfremdung steht, fällt freilich um so mehr auf, wenn der Filmemacher im Hinblick auf seine männliche Hauptfigur mitunter auf jedes distanzierende »Anführungszeichen« verzichtet: So reicht ein beiläufiger Griff zu einer Zigarette beziehungsweise später der zu einem Joint tatsächlich aus, um anzudeuten, dass Joe nie eine Jugend hatte – und zugleich nie erwachsen wurde.

»May December« , Regie: Todd Haynes, USA 2023, 117 Min., bereits angelaufen

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