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Aus: Ausgabe vom 05.06.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Russische Wirtschaft

Den Krieg versüßen

Russland: Vom leergefegten Arbeitsmarkt profitieren Leute, die bisher im Schatten standen. Dazu setzt eine Steuerreform soziale Akzente
Von Reinhard Lauterbach
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»Realer Zuwachs an Wohlstand«: Straßenbau an der russisch-ukrainischen Grenze nahe Nowotroizk (29.5.2024)

Kürzlich hat der russische Präsident Wladimir Putin für das kommende Jahr Gehaltserhöhungen für die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften bewilligt. Die wissenschaftliche Elite soll ab kommendem Jahr monatlich 200.000 Rubel (knapp 2.000 Euro) bekommen. Vom rein finanziellen Standpunkt aus hätten sich die Eierköpfe inzwischen das Studieren schenken können: Lkw-Fahrer verdienen heute genausoviel, wie ein Professor an der angesehensten Forschungsinstitution des Landes erst bekommen soll; selbst Arbeiter in der traditionell schlecht zahlenden Textilindustrie bekommen heute umgerechnet 1.200 Euro Monatslohn. 2021 waren es in Rubel noch fünfmal weniger, wechselkursbereinigt viermal.

Diese und andere Zahlen zur sozialen Lage in Russland kann man einer Ende Mai erschienenen Studie entnehmen, die im Auftrag der US-amerikanischen Carnegie-Stiftung erstellt wurde. Die Autorin, Jekaterina Kurbangalejewa, stützt sich auf Zahlen des russischen Finanzministeriums und der Zentralbank. So hat die Finanzverwaltung für 2023 mitgeteilt, dass die Staatseinnahmen aus der Einkommenssteuer um 40 Prozent höher lagen als 2021 – und diese Zahlen lassen den relativ hohen Sold der für die Armee rekrutierten Männer außen vor, denn er ist ebenso wie diverse Einmalzahlungen, aber auch Entschädigungen für die Hinterbliebenen Gefallener steuerfrei; dies alles geht also in die Statistik der Finanzverwaltung per definitionem nicht ein.

Der starke Anstieg der Löhne auf dem russischen Arbeitsmarkt hat indirekt durchaus mit dem Krieg zu tun. Durch die Rekrutierung Hunderttausender Männer sind diese dem zivilen Arbeitsmarkt entzogen worden, Arbeitskräfte sind also knapp. Davon profitieren insbesondere Leute mit industrierelevanten Berufen, sie werden für die Ausweitung der Militärproduktion gesucht. Und es profitiert in besonderem Maß die russische Provinz, wo etwa die typischerweise im Hinterland angesiedelten Rüstungsbetriebe, die jahrelang vor sich hin dümpelten, nun zum Dreischichtsystem übergegangen sind. Geld für Staatsaufträge ist offiziell kein Problem, auch wenn der Anteil der Militärausgaben am Staatshaushalt inzwischen eingestandenermaßen bei knapp neun Prozent liegt und Wladimir Putin die Planer angehalten hat »aufzupassen«, dass diese Ausgaben nicht wieder auf das Niveau der späten Sowjetunion von nach Putins Aussage 13,7 Prozent des Etats ansteigen. Westliche Schätzungen der russischen Militärausgaben liegen noch weit höher, nennen aber keine genauen Quellen.

Vieles von dem in den militärisch-industriellen Komplex gepumpten Geld landet tatsächlich in den Taschen der breiten Bevölkerung. Aus der Perspektive von Menschen, die sich über Jahrzehnte vom Wachstum der russischen Volkswirtschaft abgekoppelt fühlten, ist das ein realer Zuwachs an Wohlstand, der sich beispielsweise auch in einem starken Wachstum der Nachfrage nach Hypotheken, also Wohnungskäufen, spiegelt. Das beim Vertragsabschluss nachzuweisende Eigenkapital von 30 Prozent des Kaufpreises scheint die Leute nicht abzuschrecken.

Die Einkommen steigen also stark, auch über die offizielle Inflationsrate von etwa sieben Prozent hinaus. In dieser Situation will der Staat dafür sorgen, dass ein Teil des von ihm in die Volkswirtschaft eingespeisten Geldes an ihn zurückfließt. Das ist nachvollziehbar. Für das kommende Jahr ist eine Steuerreform geplant. Erstmals seit 2001 soll es wieder ein progressives System der Einkommenssteuer geben, gegliedert in fünf Stufen. Der Spitzensatz für Einkünfte von umgerechnet mehr als 500.000 Euro im Jahr soll bei 22 Prozent liegen. Das Finanzministerium sichert aber zu, dass sich für die große Mehrheit der Gehaltsempfänger nichts ändern werde, da die niedrigen Steuersätze von 13 Prozent für Einkommen von bis zu 25.000 Euro im Jahr und 15 Prozent für Einkünfte zwischen 25.000 und 50.000 Euro beibehalten werden sollen, die Steuern also erst oberhalb dieses Schwellenwertes erhöht werden.

Es stellt sich die Frage, was eine Steuerreform soll, von der das Finanzministerium erklärt, die meisten würden sie gar nicht spüren. Entweder ist sie einstweilen eher ein Versuchsballon, um die Reaktion der Gesellschaft zu testen, oder die Absicht ist, den Leuten zu signalisieren, dass es »gerecht« zugehe und die Reichen – wenn sie es schon nicht nötig haben, für den steuerfreien Sold zum Militär zu gehen – und die Unternehmen, deren Gewinnsteuer auf 25 Prozent erhöht wird, auch ihren Beitrag leisten müssten. Beide Hypothesen schließen sich natürlich nicht aus.

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