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Aus: Ausgabe vom 05.06.2024, Seite 10 / Feuilleton
Politisches Lied

»Kultur ist systemrelevant«

Über Kassetten von Bulat Okudschawa, Gegenkultur und die Chance auf Frieden. Ein Gespräch mit Tino Eisbrenner
Von Hagen Bonn
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Bulat Okudschawa 1980 in Leningrad am Ufer der Moika

Über den Namen Bulat Okudschawa bin ich, ehrlich gesagt, rein zufällig gestolpert. Ich war sechzehn und las unfreiwillig, weil gelangweilt, die Roman-Zeitung meiner Mutter: Okudschawas »Merci oder die Abenteuer Schipows«. Nebenan nervte mein Bruder mit dem Stück »Bjelorusski Woksal« aus seinen Boxen. Später wurde klar, er hörte Okudschawa, während ich ihn las. Wie war das bei Ihnen – wie haben Sie ihn gefunden?

Ich habe 2015 begonnen, russischsprachige Lieder ins Deutsche zu übertragen, um damit beim Bau von kulturellen Brücken zu helfen und die diesbezügliche politische Leere ein wenig auszugleichen. Ich begann mit Wyssozki und nahm ein Songbook von ihm aus dem Bücherregal meiner Eltern. Daneben stand eins von Okudschawa. Ich bin also auch drüber gestolpert.

In den 60ern wurde Okudschawa in der Sowjetunion allein durch Kassettenmitschnitte, die von Hand zu Hand gingen, blitzartig bekannt. Metallica machten das 1982 genauso und wurden weltberühmt. Sie sind seit Jahrzehnten Songpoet und Komponist. Wie ist die Lage heute, wäre so eine Arbeitsweise noch möglich?

Nun ja. Die Kassetten von heute sind wohl das Internet, und es gibt viele Künstler, die so beginnen, zumal die haptischen Produkte ja immer mehr aus der Mode geraten, weil sie, durch ihre Herstellung, auch noch etwas kosten müssen, während man aus dem Netz ohne finanziellen Aufwand einfach runterlädt. Die Internetanbieter werden reich durch die Menge an Nutzern. Aber bei den Künstlern kommt im Prinzip nichts an. Das ist für viele ein Überlebensdrama.

Vergangenes Jahr verfolgte ich einen TV-Beitrag des NDR. Sie werden sich an die »Kritik« an Ihrem Auftritt in Moskau erinnern. Herzlich lachen musste ich, als die Sprecherin bemerkte: »Der Sänger spricht von Friedensarbeit und sieht sich selbst als Brückenbauer. Ließ er sich instrumentalisieren?« Einen Sänger »instrumentalisieren« …, die Wortwahl hätte dem Philologen Okudschawa sicher gefallen. Wie waren die Reaktionen in Ihrem Umfeld?

Es hat sich gezeigt, dass in meinem Umfeld die Menschen , die den »Brückenbauer« nicht begreifen wollen, in der Minderheit sind. Ich bekomme täglich Nachrichten, in denen sich die Leute bedanken. Der Zulauf zu meinen Konzerten bestätigt eine wachsende Gemeinschaft, die Mut geschöpft hat, ihren Friedenswunsch laut auszusprechen. Ein interessanter Test waren meine elf Wahlkampfauftritte mit und für Sahra Wagenknecht, von denen neun in den alten Bundesländern stattfanden. Dort vertrat ich »ungetarnt« meine Ansichten. Auch mein bekannter Liedbeitrag aus Moskau, das Friedenslied »Schurawli – Kraniche« wurde mit großem Beifall quittiert. Mein Buch »Kraniche« ist ständig vergriffen, weil der Verlag nicht mit dem Drucken hinterherkommt. Die Puschkin-Abende mit Tobias Morgenstern sind ständig ausverkauft. Das alles macht Hoffnung und Mut.

»Tino Eisbrenner singt auf der Suche nach Frieden, Liebe und Leben auch Lieder von Okudschawa«. Die deutsche Politik dürfte da wohl nicht im Publikum sitzen. Gestern sagte mein Nachbar mir, noch nie habe er Kriegsgefahr so deutlich gespürt. Wie beeinflusst das Ihre Arbeit?

Sehr, weil es mir geht, wie Brecht es mal formuliert hat: »… wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es das Schweigen über so viele Untaten einschließt …« So sind meine Alben politisch engagierter geworden. Und ich habe gelernt, dass Poesie eine Funktion im Widerstand hat, weil sie Herzen öffnet. Wir müssen der wachsenden Kriegsrhetorik unsere geträumte und gelebte Lebenspoesie entgegenwerfen. Darum ist Kultur »systemrelevant«.

Gegenwärtig gibt es zahlreiche Kriege auf der Welt, und über den Alptraum Weltkrieg wird längst offen gefachsimpelt. Warum entwickelt sich kein breiter Widerstand?

Weil Menschen Herdentiere sind, die ihre individuelle Kraft oft unterschätzen. Oder weil die Kraft aufgebraucht ist vom täglichen Kampf ums Dasein. Die »Cancel Culture« zieht sich bis in die Familien hinein. Wir wissen aber aus der Geschichte, dass in den Luftschutzkellern oder Schützengräben all das keine Rolle mehr spielt. Wollen wir das? Oder entwickeln wir doch noch ein Vorstellungsvermögen für kommendes Leid? Kunst und Kultur sind vielleicht die letzten Möglichkeiten, uns zusammenzubringen, Brücken zu bauen zwischen den Menschen, zwischen den Völkern. Diese Brücken müssen jederzeit begehbar sein, weil wir sonst aufhören, Menschen zu sein.

Tino Eisbrenner ist Liedermacher, Schauspieler, Komponist, Musikproduzent und Moderator

»Okudschawas Erbe. Literarisches und Musikalisches zum 100. Geburtstag von Bulat Okudschawa«. Mit Jeka­therina Lebedewa und Tino Eisbrenner. Freitag, 14. Juni 2024, 19 Uhr (Einlass ab 18 Uhr), Mai­galerie, Torstr. 6, 10119 Berlin, Eintritt: 10 Euro (ermäßigt 5 Euro)

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