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Aus: Ausgabe vom 06.06.2024, Seite 10 / Feuilleton
Preispolitik

Der Frieden der Stahlhelme

Anne Applebaum erhält den Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg
Von Helmut Donat
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One size fits all: Anne Applebaum und die Weltordnungsfragen

Es ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die sich für das Erbe Carl von Ossietzkys einsetzen: Der nach ihm benannte Preis »für Zeitgeschichte und Politik« der Stadt Oldenburg schmückt in diesem Jahr Anne Applebaum, am 6. Juni 2024 wird er verliehen. Die Jury begründete ihre Wahl nicht nur mit Applebaums zeitgeschichtlichen Forschungen, in denen sie etwa die These eines geplanten »Holodomors« an den Ukrainern vertritt, sondern auch damit, dass die US-Historikerin und Journalistin die Ukraine »von Anfang an unzweideutig« gegen Russland unterstützt habe. Sie setze sich für eine »regelbasierte Weltordnung« ein und mahne für Europa eine »friedenssichernde Sicherheitspolitik« an – Si vis pacem para bellum.

Applebaum liegt in der Tat weitgehend auf der Linie der US-Regierungspolitik. Sie teilt die Welt in Gute (die NATO und den Westen) und Böse (Russland) ein, ordnet sie nach Freund und Feind. Ziel der russischen Politik sei es, den »Status eines Imperiums und die Vorherrschaft über die ehemaligen Staaten der Sowjetunion und sogar des Warschauer Paktes« zu erlangen, erklärte sie etwa in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 13. Februar 2023. Sie sieht nur eine Möglichkeit für Frieden: die Weiterführung des Krieges, bis Russland in die Knie gezwungen ist und seine Truppen zurückzieht.

Die Einseitigkeit und Undifferenziertheit ihrer Urteile würzt Applebaum mit passenden Halbwahrheiten. So behauptet sie etwa, »der Westen« hätte sich vor dem russischen Einmarsch geweigert, die Ukraine zu bewaffnen. Natürlich verliert sie kein Wort zu den Sicherheitsinteressen Russlands angesichts der NATO-Osterweiterung sowie zweier von deutschem Boden ausgegangenen Weltkriegen.

Indem die Jury Appelbaums »fachliche Perspektive« und »journalistische Kompetenz« als »maßgeblich« für »die öffentliche Auseinandersetzung mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine« rühmt, macht sie sich die Haltung einer Kriegstreiberin zu eigen und erweist sich als unfähig, dem pazifistischen Erbe und Geist Carl von Ossietzkys gerecht zu werden. Statt sich wie der Friedensnobelpreisträger und Herausgeber der Weltbühne mit den tieferen Ursachen des Krieges zu befassen, sowie jedwede Schwarzmalerei und Legendenbildung zurückzuweisen, würdigt die Jury Kriegspropaganda. Sie merkt offenbar nicht einmal, dass sie Ossietzky einen Stahlhelm überstülpt. Sie sieht nicht, wie sehr sie damit einen bedeutenden Friedensstreiter in den Dreck zieht. Es wäre nur konsequent, den Preis künftig Kriegsenthusiasten wie dem »Panzer-Toni« oder der Rüstungslobbyistin Strack-Zimmermann zu verleihen.

Applebaum meint, die Welt müsse nach dem Vorbild der USA und des »Westens« gestaltet werden. Ossietzkys aufklärerisches Bemühen ging in eine andere Richtung. Deutlich sah er voraus, dass Staaten, die diesem Beispiel folgen, auf Abwege geraten. Es handelt sich um eine Chimäre, die allen Glück und Frieden verheißt, aber das genaue Gegenteil nach sich zieht. Afghanistan lässt grüßen.

Für Ossietzky war die Welt vielfältig, ihre Völker haben eine unterschiedliche Geschichte. Sie befinden sich auf verschiedenen Stufen der zivilisatorischen Entwicklung und folgen mannigfachen Religionen, Bräuchen, Ideologien oder Weltanschauungen. Die Vorstellung, dass für alle diese Völker ein einziges politisches System, ein einziges Wirtschaftssystem oder schließlich ein einziges Wertesystem denkbar wäre, führt in die Irre. Die sogenannte regelbasierte Weltordnung ist eine Chiffre für das Streben, sich alles, was nicht in sie hineinpasst, gefügig zu machen.

Ossietzky stand vor Augen: Je früher sich die weltweit politisch Verantwortlichen von solchem Überlegenheitsdünkel verabschieden, desto sicherer wird unsere Zukunft sein. Davon ist das US-zentrierte Weltbild, das Anne Applebaums uns predigt, meilenweit entfernt. Statt dessen sollten wir uns auch bezüglich der Beziehungen zu Russland und China stets bewusst sein, dass sie durch viele Missverständnisse getrübt sind. Wer wie Applebaum sein Feindbild pflegt – wie kann der noch in der Lage sein, für Frieden und Verständigung einzutreten?

Anne Applebaum ist keine »Friedensstifterin«. Sie erkennt nicht, wie viel mehr sie erreichen lässt, wenn man auch der Gegenseite gerecht wird und sich selbst begrenzt. Wer wie sie einen Krieg bis zum »Siegfrieden« führen will und darüber die Opfer und Zerstörungen vergisst, hat mit Carl von Ossietzkys Engagement für den Frieden und ein rasches Ende des Mordens nichts gemein.

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  • Leserbrief von Hans-Joachim Müller aus Oldenburg (7. Juni 2024 um 12:10 Uhr)
    Leider kann sich Carl von Ossietzky nicht gegen den Missbrauch seines Namens durch die Stadt Oldenburg wehren, welcher mit der Verleihung des gleichnamigen Preises an die aktuelle US-amerikanische Kriegstreiberin Anne Applebaum begangen wurde. Dass diese Entscheidung von einer Jury unter Vorsitz einer Professorin der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg getroffen wurde, macht die Angelegenheit nicht verständlicher – im Gegenteil!
    Allerdings entwickelte ich auch Protest gegen diese Preisverleihung: Vor der Festveranstaltung verteilten Mitglieder des örtlichen, antimilitaristischen Bündnisses ein Fluglatt, in dem es u. a. heißt:
    »Wie kann eine Person mit dieser Haltung den Preis zur Ehrung des Pazifisten und Antimilitaristen Carl von Ossietzky erhalten? Muss es im Gedenken an seine konsequente Parteinahme gegen Militär und Kriegstreiberei in der heutigen Zeit nicht darum gehen, jede diplomatische Initiative zur Beendigung von Kriegen zu unterstützen? Kriege, die stets im Interesse machthungriger und profitsüchtiger Eliten geführt werden und das unendliche Leid der Zivilbevölkerung auf allen Seiten der Front verursachen?«
    Die BSW-Fraktion im Oldenburger Stadtrat blieb der Preisverleihung aus Protest fern. Warum ist eigentlich niemand in der Jury auf die Idee gekommen, den diesjährigen Ossietzky-Preis einem gewissen Julian Assange zu verleihen, der mit seiner Aufdeckung US-amerikanischer Kriegsverbrechen im Irak ein ähnliches Risiko wie Carl von Ossietzky mit seiner antimilitaristischen Haltung einging, da ihm zeitweilig die Todesstrafe oder 175 Jahre Gefängnis in den USA drohte und er seit Jahren eine folterähnliche Haft in einem britischen Gefängnis verbringt?
    Aber mit einer solchen Entscheidung wäre kein Beitrag geleistet worden, die deutsche Bevölkerung, wie von Minister Pistorius im Bundestag gefordert, bis 2029 kriegstüchtig zu machen.
  • Leserbrief von Ali A. (6. Juni 2024 um 11:01 Uhr)
    Die Aussage: »ihre Völker … befinden sich auf verschiedenen Stufen der zivilisatorischen Entwicklung« finde ich problematisch. So linear verläuft Geschichte nicht. Und wer definiert, was die höchste Stufe ist? Wer da etwas bescheidener herangehen möchte, kann sich mal das Buch »Anfänge« von David Graeber und David Wengrow anschauen.

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