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Aus: Ausgabe vom 06.06.2024, Seite 12 / Thema
Zweiter Weltkrieg

Eine Etappe zum Sieg

Vor 80 Jahren landeten westalliierte Truppen in der Normandie
Von Kai Köhler
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Landung: US-Soldaten erreichen am 6. Juni 1944 von den Nazis besetztes französisches Festland

»Der längste Tag« – so lautet der Titel eines populär gewordenen Buchs des US-Journalisten Cornelius Ryan über die Landung in der Normandie am 6. Juni 1944. Man könnte einwenden, dass Rotarmisten zuvor schon viele längste Tage durchkämpft hatten. Unstrittig ist immerhin, dass sich mit dem Gelingen der Invasion die deutsche Lage noch hoffnungsärmer als zuvor darstellte und die Wehrmacht nun endlich jenen Mehrfrontenkrieg kämpfen musste, den die sowjetische Führung jahrelang gefordert hatte.

Kriegslage und Vorbereitungen

Knapp drei Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 war die deutsche Wehrmacht bereits entscheidend geschwächt. Die verbliebenen kampfkräftigen Einheiten wurden fast alle an der Ostfront eingesetzt. Die in Westeuropa stationierten Truppen waren überwiegend qualitativ wie quantitativ unzureichend. Das Durchschnittsalter der Soldaten war hoch, vielen Divisionen mangelte es an Fahrzeugen und damit an Beweglichkeit. Größere taktische Reserven gab es ausschließlich im Raum von Calais, wo ein alliierter Angriff am wahrscheinlichsten schien. In der Normandie konnte wenig mehr geleistet werden als die Küstenlinie zu besetzen. Weiter im Südwesten mussten einzelne Divisionen Bereiche von bis zu 347 Kilometer Breite abdecken, was gerade einmal eine Feindbeobachtung erlaubte. Aufgrund der Küstenlänge war auch nach vier Jahren Besatzung der Atlantikwall, der eine Invasion abwehren sollte, nur an wenigen Stellen voll ausgebaut.

Darüber, wie auf diese Lage zu reagieren sei, gab es Meinungsverschiedenheiten. Gerd von Rundstedt als Oberbefehlshaber West vertrat den konventionellen Ansatz, Kräfte auf einen Punkt zu konzentrieren und dort die Entscheidung zu suchen. Das bedeutete, die verfügbaren Panzerkräfte im Hinterland als Reserve zu halten und nach einem alliierten Angriff für eine Landschlacht zusammenzuführen. Erwin Rommel, der nur die Rundstedt unterstellte Heeresgruppe B befehligte, aber Zugang zu Hitler hatte, hielt dies für falsch. Besitze der Gegner erst einmal einen Brückenkopf, so reichten die Kräfte nicht aus, ihn zurückzuwerfen. Angesichts der alliierten Luftüberlegenheit sei es kaum möglich, größere Panzerverbände ohne schwere Verluste überhaupt zu bewegen.

Dies sollte sich zwar nach dem 6. Juni als richtig erweisen. Rommels Konsequenz hingegen, die Panzer über die ganze Küste zu verteilen, überzeugte nicht. Schließlich konnte der Angreifer den Ort der Schlacht wählen, damit den Schwerpunkt setzen und an jeder Stelle materiell überlegen sein. Der Streit verwies auf ein Dilemma der deutschen Seite, nämlich dass die eigenen Kräfte so oder so nicht genügen würden.

Tatsächlich gab es unter den Westalliierten lange Diskussionen, wo die Landung stattfinden sollte. Für den Raum Calais, wo die deutsche Militärführung sie erwartete, sprach manches. Dort war der Ärmelkanal am schmalsten und die Distanz zu den Zentren der deutschen Rüstungsindustrie am kürzesten. In der Normandie hingegen waren die deutschen Verteidigungsanlagen schwächer, das Gelände war günstiger, und mit Cherbourg, Brest, Lorient und Saint-Nazaire lagen Häfen in der Nähe, die nach einer Eroberung dem eigenen Nachschub dienen konnten. Immerhin wurde im Südosten Englands am Pas-de-Calais ein reger Funkverkehr inszeniert. Leere Zelte und Flugzeugattrappen täuschten eine Invasionsarmee vor. Die deutsche Aufklärung ging noch bis weit in den Juli 1944 hinein davon aus, dass die Landung in der Normandie nur ein Ablenkungsmanöver sei und der eigentliche Angriff erst noch bevorstehe. So blieben relativ kampfkräftige Einheiten tatenlos dem eigentlichen Geschehen fern.

Wochenlange Bombenangriffe bereiteten die Landung vor. Ziele waren Wehrmachtsflugplätze, Verkehrsinfrastruktur und Eisenbahnwaggons. Sabotageakte der französischen Résistance trugen dazu bei, die Beweglichkeit der deutschen Besatzer einzuschränken, und banden Truppen, die mit der Partisanenbekämpfung beschäftigt waren. Bereits am Vorabend der Invasion waren die Abwehrkapazitäten der Wehrmacht schwer beschädigt.

Führende deutsche Offiziere waren in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni dennoch nicht an ihrem Platz. Das Wetter schien zu schlecht für eine Überfahrt (die Westalliierten setzten, mit Erfolg, auf ein geringes Zeitfenster mit günstigeren Bedingungen). So versammelten sich viele der faschistischen Kommandeure ausgerechnet während der Invasion zu einem Planspiel, wie eine Invasion abgewehrt werden könne.

Die Landung und ihre Opfer

Dennoch hatten die alliierten Landungsvorbereitungen nur zum Teil Erfolg. Insbesondere der Einsatz von Fallschirmjägern, die in den Stunden vor dem eigentlichen Angriff wichtige Positionen im Hinterland besetzen sollten, scheiterte fast völlig. Die Soldaten wurden zu weit verstreut abgesetzt, und viele von ihnen irrten in kleinen Gruppen oder sogar allein durch das Gelände. Negativer Effekt war, dass die deutschen Truppen frühzeitig gewarnt wurden. Auch wenn die zentralen Leitstellen lange nicht erkannten, dass sie es mit der Hauptlandung zu tun hatten, so waren die Verteidiger doch vorbereitet, als die alliierte Flotte vor der Küste auftauchte und sich die Landungsboote näherten.

In den meisten Abschnitten änderte dies freilich am Ergebnis nichts. Luftangriffe und Schiffsbeschuss zerschlugen die ohnehin unzureichenden Verteidigungsstellungen. Allein in einem Abschnitt des US-Truppen zugewiesenen, als Omaha bezeichneten Bereichs kam es zu verlustreichen Kämpfen. Hier waren viele Landungsboote von Abwehrfeuer getroffen worden. Panzer, die der vorrückenden Infanterie Feuerschutz hätten geben sollen, versanken beim Absetzen im Meer. Für Stunden hingen die gelandeten Soldaten auf einem gut einsehbaren Strandabschnitt fest, während hinter ihnen die Flut den Bewegungsraum immer weiter verengte. Erst das Feuer von US-Kreuzern, die sich nah an die Küste wagten, brach den deutschen Widerstand.

Dies zeigt, dass das Landeunternehmen keineswegs einfach war. Es weist allerdings auch darauf hin, dass die Alliierten bei Schwierigkeiten in der Lage waren, durch geballte Feuerkraft einen Durchbruch zu erzwingen. Am Abend des 6. Juni hatten sich ihre Truppen in allen Landeabschnitten festgesetzt. Die Verluste am ersten Tag waren geringer als einkalkuliert: knapp 10.000 Tote, Verwundete und Vermisste. Das ist, gemessen an Nachrichten aus den gegenwärtigen Kriegen, viel, übersteigt aber nicht die Verluste der Roten Armee an jedem einzelnen Tag der Schlacht von Stalingrad.

Die Kämpfe der folgenden Monate sollen hier nur skizziert werden. Rundstedts Absicht, den gelandeten Gegner in einer Landschlacht zu vernichten, erwies sich als völlig unrealistisch. Führungswirrwar auf deutscher Seite, die zerstörte Infrastruktur und dauernde alliierte Luftangriffe verhinderten, die dafür eingeplanten Panzerkräfte konzentriert einzusetzen. Was verspätet eintraf, hatte noch vor jeder Feindberührung große Verluste erlitten und wurde zumeist bei der Krisenbewältigung an Brennpunkten aufgebraucht. Der Vormarsch der beteiligten Truppen – neben Soldaten aus den USA und Großbritannien kleinere Kontingente aus Kanada, Frankreich und Polen – war nicht mehr zu verhindern. Wenn er sich deutlich langsamer vollzog als geplant, lag das teils an mangelnder Koordination, teils an unübersichtlichem und stellenweise geflutetem Gelände, das die Bewegung erschwerte. Am Ergebnis änderte dies nichts. Mitte August, gut zwei Monate nach der Landung, war Nordwestfrankreich befreit. Am 19. August gingen französische Widerstandskämpfer in Paris zum offenen Aufstand über, ab dem 22. August bekamen sie Unterstützung durch US-Truppen, am 25. August war die Stadt befreit. Hoffnungen, nun nach Deutschland durchmarschieren zu können, erfüllten sich allerdings nicht. Noch einmal gelang es der Wehrmacht, die Front zu stabilisieren, und der Krieg dauerte noch beinahe ein Dreivierteljahr.

Wichtig zu betonen, auch in Hinblick auf das Folgende, ist die materielle Überlegenheit der Westalliierten. Täglich etwa 10.000 Flugzeugeinsätzen standen um die 500 auf deutscher Seite gegenüber; der deutschen 7. Armee standen in den Tagen nach der Invasion täglich etwa 4.000 Granaten zur Verfügung, den Westalliierten etwa 80.000 Schuss.¹ Mehrfach wurden Angriffsoperationen durch ein intensives Bombardement vorbereitet, das von den Stellungen der Wehrmacht nur kleine Widerstandsnester übrigließ. Ausfälle, die – nicht zuletzt durch Friendly Fire – dennoch eintraten, konnten anders als auf deutscher Seite leicht durch Nachschub ersetzt werden. Die USA und Großbritannien hatten die Landung verzögert, bis sie über Kräfte verfügten, die einen Erfolg sicherstellten und eigene Verluste minimierten. Dies freilich hatte der Sowjetunion um so größere Lasten aufgebürdet, und es hatte den Faschisten Zeit gegeben, ihre Völkermorde weiterzuführen.

Auch unter gegenwärtigem Gesichtspunkt ist ein Blick auf die zivilen Opfer im Zusammenhang mit der Landung instruktiv. Bei der vorbereitenden Zerstörung der Infrastruktur und den auf den 6. Juni unmittelbar folgenden Kämpfen verloren etwa 70.000 Franzosen ihr Leben.² Im Zweiten Weltkrieg zeigten fast alle Parteien sogar gegenüber einer nicht feindlichen Zivilbevölkerung eine Rücksichtslosigkeit, die das, was heutzutage als »Vernichtungskrieg« gilt, weit übersteigt.

Fragwürdige Bündnisse

Der Zweite Weltkrieg dauerte von 1939 bis 1945, und in ihm kämpften zwei Machtblöcke gegeneinander, die um Deutschland, Japan und Italien einerseits, die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Frankreich andererseits gruppiert waren: Wenige Aussagen sind ungenauer als diese.

In Europa begann die Phase der militärischen Auseinandersetzungen bereits 1936 mit dem Spanischen Bürgerkrieg, in Ostasien 1937 mit der japanischen Invasion in China. Zu einem Weltkrieg vereinten sich die beiden Schauplätze erst im Dezember 1941, als nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor auch Deutschland den USA den Krieg erklärte. Davor war die Koordination zwischen den Achsenmächten minimal: Japan sah den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt im August 1939 als Verstoß gegen den Antikominternpakt von 1936, zumal es zwischen Juli und September 1939 in einen Grenzkrieg mit der UdSSR verwickelt war. 1941 hingegen hoffte die deutsche Führung auf einen japanischen Angriff auf die Sowjetunion, um diese in einen Zweifrontenkrieg zu verwickeln. Tokio hingegen setzte auf Expansion in den pazifischen und südasiatischen Raum, um sich für die Kriegführung notwendige Rohstoffe zu sichern.

Keineswegs mehr Vertrauen herrschte zwischen den Alliierten. Die sowjetische Verständigung mit Deutschland 1939 war Folge der begründeten Befürchtung, die Westmächte könnten zusammen mit Polen den Faschisten freie Hand für einen Angriff auf den damals einzigen sozialistischen Staat geben. Und auch nach dem Juni 1941, als deutsche Truppen die Sowjetunion überfielen, kam es zu keiner Zusammenarbeit. Britische und US-amerikanische Stellen prognostizierten, wie lange es bis zu einem weiteren deutschen Blitzkriegsieg dauern würde. Die Optimisten meinten, dass sich die Sowjetunion drei Monate wehren könne.

Bekanntlich kam es anders. Im Winter 1941/42 fügte die Rote Armee der Wehrmacht vor Moskau die erste strategische Niederlage zu. Aber auch danach sah man im Westen skeptisch auf die Überlebensfähigkeit der UdSSR und zweifelte, ob sie ein weiteres Jahr Krieg überstehen werde.

Dabei war die Interessenlage durchaus zwiespältig. Eine sowjetische Niederlage hätte bedeutet, dass Deutschland seine Truppen im Westen hätte einsetzen und zudem auf ausreichende Rohstoffquellen und Getreideanbaugebiete hätte zurückgreifen können. Zu große sowjetische Erfolge, wie sie sich nach der Schlacht von Stalingrad im Winter 1942/43 abzuzeichnen begannen, waren hingegen ebenfalls gefährlich. Zwar war die Frontlinie am Don 1943 noch weit von Mitteleuropa entfernt. Doch wuchs aus Westsicht die Gefahr, dass die Sowjetunion nach einem Sieg über Deutschland eine beherrschende Stellung in Europa besitzen würde. Die Kalkulation, Deutschland und die Sowjetunion aneinander ausbluten zu lassen und dann den Gewinn einzukassieren, geriet in Gefahr.

Der Weg zur Entscheidung

Aber wer würde kassieren? Schon die Kriegsziele der beiden wichtigsten Westalliierten waren unterschiedlich. Das absteigende Großbritannien versuchte das Weiterbestehen seines Empire zu sichern – die USA, von deren Wirtschaftsmacht die britische Kriegführung bereits vor dem Dezember 1941 abhing, wollten zur hegemonialen Weltmacht aufsteigen. Wer zahlt, bestimmt; so erzwangen die USA von Großbritannien die Teilnahme an einer Ölkonferenz, die vom 18. April bis zum 4. Mai 1944 in Washington stattfand und auf der die US-Ölkonzerne die formelle Gleichberechtigung mit ihren britischen Konkurrenten in Saudi-Arabien erlangten. Angesichts der immer stärkeren ökonomischen, politischen und militärischen Überlegenheit der USA bedeutete dies mittelfristig die Verdrängung Großbritanniens.³

Erfolgreicher war die britische Regierung dabei, eine Front im Westen, die die Sowjetunion entlastet hätte, aufzuschieben. Dabei hatte US-Präsident Roosevelt eine Landung bereits für 1942 angepeilt, und im Frühjahr lagen von US-Seite Pläne vor, zwischen dem 15. Juli und dem 1. August 1942 eine Streitmacht von 600.000 Mann nach Frankreich zu bringen, wobei zunächst die Hauptlast auf britischer Seite liegen und der US-amerikanische Anteil allmählich gesteigert werden sollte. Die britische Führung verwies auf fehlenden Schiffsraum für notwendige Transporte und behauptete, dass eine Landung erst 1943 möglich sei und auch nur dann, wenn Deutschland durch die Kämpfe in der Sowjetunion bis dahin geschwächt sei. Damit wurde deutlich, dass es ihr gerade nicht darum ging, die Sowjetunion zu entlasten und sie nicht nur im Gegensatz zu deren Vertretern, sondern auch zu Roosevelt stand.

Die Westalliierten entschieden sich indessen für die Operation Torch, eine große Landungsaktion in Nordafrika, die am 8. November 1942 begann. Dieses französische Kolonialgebiet wurde von der mit Deutschland kollaborierenden Vichy-Regierung kontrolliert. Ein Kampf an diesem Ort und gegen diesen Gegner war nicht komplett sinnlos: Immerhin bedrohte der Erfolg die in Nordafrika kämpfenden deutschen und italienischen Verbände, die dann auch im Mai 1943 kapitulieren mussten. Die gut 100.000 Soldaten, die auf alliierter Seite bei der Operation eingesetzt wurden, waren zwar weitaus weniger, als für eine Landung in Frankreich benötigt worden wären. Aufgrund der größeren Distanzen wurde aber dennoch jene große Menge an Schiffen benötigt, die gegen Frankreich angeblich nicht zur Verfügung standen. Und, schlimmer noch: Die Operation fand während der Schlacht von Stalingrad statt. Elf Tage nach ihrem Beginn setzte die Rote Armee zu der Gegenoffensive an, die zur Einkesselung der deutschen 6. Armee führte. Die deutsche Führung konnte sich in dieser Phase sicher sein, dass die westalliierten Kräfte gebunden waren und in Frankreich keine aktuelle Bedrohung vorlag. Dass eine bessere Koordination möglich und nur eine Frage des Willens war, zeigte sich dann 1944, als die Sowjetunion vereinbarungsgemäß am 10. Juni ihre Sommeroffensive startete und so verhinderte, dass Deutschland Truppen in den Westen verlegte.

Das Jahr 1943 kam, und nach Stalingrad lag die von Großbritannien genannte Voraussetzung vor, dass die Wehrmacht geschwächt sein müsse. Die zweite Front in Frankreich ließ dennoch auf sich warten, trotz wiederholter dringender Forderungen aus der Sowjetunion. Es fehlt hier der Platz, diese Interventionen und die wechselvollen Verhandlungen unter den Westalliierten, an welchen Punkten der von Deutschland beherrschte Kontinent anzugreifen sei, wiederzugeben. Diskutiert wurden Varianten, die von Nordnorwegen über Frankreich und Italien bis hin zum Balkan reichten. Klar wird dabei, dass die Geschichte des Krieges von 1943 an auch völlig anders hätte verlaufen können. Eine militärische Niederlage Deutschlands war zwar unausweichlich. Doch gab es mehrere mögliche Wege dorthin, mit durchaus unterschiedlichen Konsequenzen für die Nachkriegsordnung.

Um die Zeit nach dem Krieg ging es jedenfalls der britischen Führung, als sie für 1943 den Mittelmeerraum als Operationsschwerpunkt durchsetzte. Dieser war von strategischer Bedeutung für den Erhalt des Kolonialreichs. Auf den Zusammenbruch der Achsenmächte in Nordafrika folgten Landungen auf Sizilien (10. Juli) und in Italien (ab 3. September). Auch dies war mehr als nichts. Es führte immerhin dazu, dass Italien aus dem Krieg ausschied und deutsche Truppen dort weitgehend alleine versuchen mussten, den alliierten Vormarsch aufzuhalten. Doch ist die italienische Halbinsel schmal und überwiegend gebirgig. Diese Front band bei weitem nicht eine Anzahl von Wehrmachtsdivisionen, die die Sowjetunion spürbar entlastet hätte.

Und sogar für 1944 versuchte die britische Führung noch, den Schwerpunkt im Süden beizubehalten. Lieblingsprojekt des Premierministers Winston Churchill war eine Landung im Westbalkan, um von dort gegen die deutschen Verbündeten in Südosteuropa vorzustoßen. Der Charme dieser Variante aus westlicher Sicht ist offenkundig: Es wäre darum gegangen, sich Gebiete zu sichern, die bereits in unmittelbarer Reichweite der Roten Armee lagen. Militärischer Nachteil war das gebirgige, verkehrstechnisch wenig erschlossene Terrain, das eine Bewegung größerer Truppenteile verzögert hätte. Vor allem aber rückte die Frage ins Zentrum, wer das wirtschaftlich weitaus bedeutendere Deutschland befreien würde. Der Sowjetunion den Hauptkampf aufzubürden, kippte aus westlicher Sicht von der Chance, sie zu schwächen, zu der Gefahr, dass nach dem Krieg ganz Mitteleuropa sozialistisch würde.

Fehlten vor 1944 die Ressourcen, eine wirkliche zweite Front gegen das faschistische Deutschland zu eröffnen? Die Landeoperationen, die die Westalliierten in Afrika und Europa mit zwar geringeren Kräften, doch weiter entfernt von Großbritannien durchführten, sprechen dagegen. Hauptargument ist, es habe ein Mangel an Schiffsraum, insbesondere an großen Landungsbooten, bestanden. Die Forschung hat indessen nachgewiesen, dass die USA Anfang 1943 den Bau solcher Schiffe einschränkten. Statt dessen hatten Flugzeugträger und Zerstörer Priorität, und unter den Landungsbooten kleine Einheiten, die gegen schwach befestigte Küsten wie in Nordafrika oder im Krieg gegen Japan bei der Landung auf pazifischen Inseln eingesetzt werden konnten.⁴ Problem war offenkundig nicht ein Materialmangel, sondern die Schwerpunktsetzung. Ähnliches gilt für die Verteilung der Truppen. Erst Ende 1943 gewann der Kampf gegen Deutschland das Übergewicht, wobei ein Großteil der Soldaten noch auf dem Nebenschauplatz Mittelmeer gebunden war.⁵

Versuchungen

Wo kein Wille ist, da ist eben auch kein Weg. Valentin Falin, 1971 bis 1978 sowjetischer Botschafter in der Bundesrepublik und sicherlich nicht frei von Illusionen, durch Entspannung den Imperialismus mäßigen zu können, hat nach seiner politisch aktiven Zeit als Historiker gearbeitet und sich ausführlich mit der westlichen Diplomatie im Zweiten Weltkrieg befasst.⁶ Er weist nicht nur nach, wie die Errichtung einer zweiten Front immer wieder sabotiert wurde, sondern zeigt auch, dass es in Großbritannien und den USA Kreise gab, die an einer Verständigung mit Deutschland interessiert waren. Tatsächlich blieben die Gesprächskanäle stets offen. Dies gilt nicht nur für den rechten Flügel des deutschen Widerstands um Carl Goerdeler, Ludwig Beck und Wilhelm Canaris, der als Preis für die Beseitigung Hitlers noch bis ins Jahr 1944 hinein Teile der deutschen Eroberungen dauerhaft sichern wollte. Auch Teile des Regimes um Göring und Himmler suchten in Erfahrung zu bringen, ob nicht ein Faschismus ohne den Führer zum Bündnispartner gegen die erstarkende Sowjetunion taugen könne. Damit stellt sich auch die Frage, ob die Fehler der deutschen Militärführung in den ersten Stunden nach der Landung nicht auf einen Versuch hinweisen, eine Lage zu schaffen, in der ein Bündniswechsel möglich wurde. Rommels Stabschef Hans Speidel war am militärischen Widerstand gegen die Nazis beteiligt und avancierte nach Gründung der Bundeswehr 1957 zum Oberbefehlshaber der alliierten Landstreitkräfte in Europa; erst 1963 musste er auf Drängen des französischen Präsidenten Charles de Gaulle, der Speidel dessen Aktionen gegen die Résistance vorhielt, dieses Amt abgeben.

Die Kontakte zwischen den Westalliierten und verschiedenen Fraktionen der deutschen Rechten behinderten den Kampf gegen den Faschismus; wie Falin zeigt, bis in den Mai 1945. Doch fiel nach dem misslungenen Attentat vom 20. Juli 1944 der deutsche Offizierswiderstand als Machtfaktor aus und führten die Avancen von Himmler und Göring zu nichts. Das antideutsche Bündnis, obgleich es von Feindschaften durchzogen war und alle Beteiligten stets an ihre Machtbasis in der Nachkriegszeit dachten, hielt bis kurz nach dem Sieg über das Naziregime. Die Landung in der Normandie ist eine wichtige Etappe auf dem Weg dorthin, aber kaum die entscheidende.

Anmerkungen

1 Zahlen nach Klaus-Jürgen Bremm: Normandie 1944. Darmstadt 2022, S. 146, S. 195. Bremm bietet eine faktenreiche und anschauliche Schilderung der Ereignisse, berücksichtigt aber nicht die politische Dimension und stellt auch nicht die Behauptung in Frage, dass die Westalliierten gar nicht früher hätten eingreifen können.

2 Ebd., S. 89

3 Olaf Groehler: Krieg im Westen. Berlin 1968, S. 68. Groehler behandelt die militärischen Vorgänge nur knapp, gibt aber eine auch heute noch beispielhafte Darstellung der politischen Entwicklungen und der ökonomischen Interessen der verschiedenen Fraktionen in den USA und in Großbritannien.

4 Ebd., S. 113 ff.

5 Ebd., S. 116

6 Valentin Falin: Zweite Front. Die Interessenkonflikte in der Anti-Hitler-Koalition. München 1995

Kai Köhler schrieb an dieser Stelle zuletzt in der Ausgabe vom 23./24./25./26.12. und in der vom 27.12.2023 zur Museumslandschaft Vietnams.

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