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Aus: Ausgabe vom 07.06.2024, Seite 2 / Ausland
Türkei

»Es liegen keine materiellen Beweise vor«

»Kobani Prozesse«: Lange Haftstrafen für Angeklagte aus HDP-Vorstand. Ein Gespräch mit Kazım Bayraktar
Interview: Henning von Stoltzenberg
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Türkei: Demonstration für die Angeklagten (Ankara, 17.5.2024)

In der Türkei wurden im sogenannten »Kobani-Prozess« gegen Politiker der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker, HDP, 36 Urteile gesprochen. Wie kam es zu dieser hohen Zahl von Verurteilungen in dem Verfahren?

Der politische Hintergrund des HDP-Prozesses ist vielschichtig, jedoch spielte der Aufstieg der HDP bei den Wahlen am 7. Juni 2015 eine zentrale Rolle. Nach den Wahlen im Juni 2015 und der Zunahme der politischen Spannungen rief Präsident Recep Tayyip Erdoğan Neuwahlen für den 1. November 2015 aus. Die politische Situation eskalierte nach dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 weiter, was zu einem Ausnahmezustand führte und die Repression gegen die HDP und kurdische Vertreter intensivierte, insbesondere unter dem Vorwand der Kobani-Ereignisse.

Was meinen Sie damit?

Im Sommer 2014 waren Kämpfer des »Islamischen Staats«, IS, auf Kobani vorgerückt, um ein neues Massaker zu begehen. Viele Staaten, Organisationen und Intellektuelle, auch die UNO, riefen zur Beendigung des Angriffs des IS auf, und weltweit gab es Proteste. Ein Tweet des HDP-Vorstands, der die Bevölkerung zu demokratischen Protesten aufrief, wurde sechs Jahre später als Grundlage für die Verhaftungen angeführt. Der Tweet war ein Aufruf zum demokratischen Protest und nicht zu Gewalt.

Knapp zwei Jahre später, am 21. März 2016, wurde ein parlamentarisches Verfahren gegen die HDP-Kovorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie fünf Abgeordnete eingeleitet. Ihre Immunität sollte wegen des Vorwurfs der »Aufstachelung der Öffentlichkeit zu einer Straftat« gemäß Artikel 214 des türkischen Strafgesetzbuchs aufgehoben werden. Mit den Stimmen der regierenden Abgeordneten wurde – unter Verletzung der Verfassung – dies dann auch gemacht, und sie am 4. November 2016 verhaftet.

Und was hat das mit Ihrem Mandanten Alp Altinörs zu tun?

Er und andere Vorstandsmitglieder der HDP wurden im September und Oktober 2020 verhaftet. Als Hauptgrund wurden die Kobani-Ereignisse angeführt. Offene und legale politische Aktivitäten wurden aufgrund einer politischen Interpretation als mit einer »terroristischen Organisation« in Verbindung stehend betrachtet, obwohl keine materiellen Beweise vorgelegt wurden.

Die Urteile variieren stark, ein paar Politikerinnen und Politiker wurden freigesprochen, andere wurden zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt. Die gesamte Haftstrafe des früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş beläuft sich auf 42 Jahre. Wie kommt das zustande?

Die meisten der am Ende des Prozesses verhängten Urteile basierten auf der Begründung, dass ein rechtlicher Kausalzusammenhang zwischen den Massenprotesten in kurdischen Städten und dem Tweet bestand, in dem aufgerufen wurde, gegen den Einmarsch des IS zu protestieren. Alle Mitglieder des HDP-Vorstands einschließlich der Kovorsitzenden, die am Vorstandstreffen am 6. Oktober 2014 teilgenommen hatten, bei dem die Entscheidung über den Aufruf-Tweet getroffen wurde, wurden wegen Anstiftung zur Gewalt und damit wegen Beihilfe zum »Versuch der Spaltung der Integrität des Staats und des Landes« zu hohen Strafen verurteilt. Darüber hinaus wurden auch diejenigen, insbesondere Demirtaş, wegen politischer Äußerungen verurteilt, die sie an verschiedenen Tagen gemacht hatten. Diejenigen, die bei der Vorstandssitzung am 6. Oktober 2014 nicht anwesend waren, wurden freigesprochen.

Ihr Mandant wurde zu 22 Jahren verurteilt. Wofür war er im damaligen HDP-Vorstand zuständig?

Mein Mandant Alp Altınörs war stellvertretender Kovorsitzender der HDP und Mitglied des Vorstandes. Dort war er in der Wirtschaftskommission tätig und zusätzlich zuständig für die NGOs. Er ist nicht nur Politiker, sondern auch Wirtschaftswissenschaftler und beeidigter Übersetzer für die Sprachen Russisch, Spanisch und Englisch.

Wie bereits erwähnt, wurde er wegen seiner Teilnahme an der Vorstandssitzung am 6. Oktober und somit wegen angeblicher »Anstiftung und Beihilfe zur Straftat‚ Versuch der Spaltung der Integrität des Staats und des Landes« zu insgesamt 22 Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Sind die Urteile rechtskräftig oder geht die juristische Auseinandersetzung weiter?

Die Entscheidung ist bislang nicht rechtskräftig. Wir haben Berufung eingelegt, und das Verfahren wird vor dem regionalen Berufungsgericht in Ankara fortgesetzt.

Kazım Bayraktar ist Rechtsanwalt des im sogenannten »Kobani-Prozess« Verurteilten HDP-Politikers Alp Altinörs

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