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Aus: Ausgabe vom 07.06.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Kübelweise Hass: Myriam Leroys Roman »Rote Augen«

Von Robert Best
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Ob sie nicht sein Blog anschauen, ihm ein Interview geben oder mit ihm ausgehen wolle?

Was die Belgierin Myriam Leroy in ihrem Romanzweitling »Rote Augen« beschreibt, speist sich aus ihrer persönlichen Erfahrung: Stalking und Mobbing durch Internetbenutzer, die einen erst bewundern, dann anbaggern und wenn sie einen Korb erhalten, anfeinden und mit Hilfe ihrer Follower fertigmachen. Im Roman geschieht das etwa in Form angedrohter Vergewaltigungen, bearbeiteter Porträts oder Aufforderungen zum Selbstmord.

Wie einst Leroy selbst moderiert ihre namenlose Protagonistin eine Radiosendung. Sie wird von einem Facebook-Benutzer angeschrieben. Er verfolge ihre Arbeit genau. In der »Prawda«, wie er die staatlichen Medien nennt, sei sie die einzige eigenständige, unbequeme Stimme. Ob sie nicht sein Blog anschauen, ihm ein Interview geben oder mit ihm ausgehen wolle? »Er heiße Denis und freue sich sehr, meine Bekanntschaft zu machen.«

Man gewöhnt sich an den häufigen Gebrauch der indirekten Rede in »Rote Augen«. Leroy wurde attestiert, eine neue Form für den angestaubten Briefroman gefunden zu haben. Der Verehrer schreibt, die Verehrte antwortet (selten). Was sie mitteilt, erfahren wir, weil Denis es aufnimmt und ihr zurückspielt. Leroys riskante Methode, die Umrisse ihrer Hauptfigur (zunächst) vor allem durch diese Linse zu zeigen, geht auf, auch weil jede Figur durch ihre mediale Persona vielschichtiger wird.

Denis ist von Beginn weg trotz Charmeoffensive ein Troll, wie er im Buche steht, und macht keinen Hehl aus seinen reaktionären Ansichten. Welchen Reiz übt jemand aus, der heute noch Morrissey verehrt und – ach, das reicht eigentlich schon. Aber gegenüber der Journalistin schafft es Denis, nicht nur sich selbst, sondern auch sie als Freigeist zu inszenieren, als eine der letzten ihrer Art. Für derlei Schmeicheleien zeigt sie sich nicht sehr, aber doch zu empfänglich, antwortet manchmal höflich, gibt auch hier und da etwas von sich preis. Angebissen. Schon meint man zu spüren, wie die Moderatorin zweifelnd vorm Kleiderschrank steht: Könnte dieser Denis es jetzt als Zugeständnis an seinen Geschmack empfinden, wenn sie einen Rock zum Fototermin anzieht?

Als sie sich später fragt, wie es so weit kommen konnte, dass Denis sie in diverse Abgründe treibt, ist unter anderem von anerzogener weiblicher Unsicherheit die Rede. Auch davon, dass ihr erodierendes Beziehungsumfeld stets abwiegelt: Gibt es nicht andere Probleme auf der Welt? Wenn dieser Denis kübelweise Hass auf sie ablädt, hat sie nicht selbst etwas dazu beigetragen?

Die Ursachen dieses frauenfeindlichen Terrors sind nicht die Mechanismen der sozialen Medien. Die beschleunigen den Brand. Entfacht wird er durch eine Sexismuskultur, die ihre Opfer stigmatisiert. Wo misogyne Täter juristisch gerade noch davonkommen, kann es ihnen zudem gelingen, sich als Klassenkämpfer aufzuspielen (Normalo gegen Promi), als Verfechter der Meinungsfreiheit sowieso. Leroy schafft es, aus diesem Aberwitz einen Sog zu entwickeln, der ihre Hauptfigur und die Lesenden gleichermaßen mitreißt. Es ist nicht zuletzt der Solidarität von Menschen in ähnlicher Lage zu verdanken, dass am Ende des Tunnels doch noch ein Licht aufscheint.

Myriam Leroy: Rote Augen. Aus dem Französischen von Daniela Högerle. Edition Nautilus, Hamburg 2023, 176 Seiten, 22 Euro

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