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Aus: Ausgabe vom 07.06.2024, Seite 16 / Sport
Sportpolitik

»Eine auffällige Unterrepräsentanz«

Über Ostdeutsche in den Führungsetagen des Sports. Ein Gespräch mit Lutz Thieme
Von Andreas Müller
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Hereinmarschiert: Olympiamannschaft der DDR (München, 1972)

Sie haben untersucht, wie Ostdeutsche fast 35 Jahre nach der »Wende« in Führungspositionen des gesamtdeutschen Sports vertreten sind. Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Für den Sport gab es bisher keine solche Studie. Im Vergleich zum Anteil der Einwohner mit ostdeutscher Sozialisation gibt es eine auffällige Unterrepräsentanz von ostdeutschen Vertretern in Toppositionen. In ausgeprägter Form gilt das für den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), wo aktuell weder im hauptamtlichen Vorstand noch ehrenamtlich an der Seite von Präsident Thomas Weikert Ostdeutsche in den Führungsgremien vorkommen. In der Amtszeit des Vorgängers Alfons Hörmann waren mit Vizepräsidentin Petra Tzschoppe aus Leipzig und Andreas Silbersack aus Halle (Saale) noch zwei Ostdeutsche vertreten. Deutlich ist die ostdeutsche Unterrepräsentanz bei den Spitzenverbänden der olympischen Sportarten und des Behindertensports, in denen sie im maßgeblichen ehrenamtlichen Gremium bei gut acht Prozent der Positionen liegt. In den hauptamtlichen Leitungspositionen ist es etwas mehr. Das ist ein wichtiges Ergebnis, weil es im Sport im Unterschied zu anderen Bereichen parallel zur hauptamtlichen Ebene die Besonderheit einer ehrenamtlichen Ebene gibt, für die offenbar vergleichbare Mechanismen bei der Besetzung von Führungspositionen ­gelten.

Gemessen an der Bedeutung insbesondere des Leistungssports in der DDR sind also nur wenige Ostdeutsche in Führungspositionen vertreten. Doch gemessen an Studien, wonach Ostdeutsche in Wirtschaft, Politik, Justiz oder Wissenschaft bis 2016 nur knapp zwei Prozent aller Toppositionen begleiteten und 2022 gerade mal um die 3,5 Prozent, sind Ihre Ergebnisse beinahe als moderat zu bewerten.

Das ist richtig, erst recht, wenn man die Personalsituation bei den ostdeutschen Landessportbünden in die Betrachtung einbezieht, bei denen die Positionen in den Entscheidungsgremien mehr als 90 Prozent ostdeutsch sozialisiert sind. Der Verdrängungswettbewerb im Sport ist somit weniger krass ausgefallen, der Austausch von Eliten nach 1990 hat im Sport nicht ganz das Ausmaß erreicht wie in anderen Bereichen. Andererseits ist das nicht sehr überraschend, wenn man bedenkt, dass speziell der Spitzensport in der DDR zum Zeitpunkt der »Wende« der wohl einzige Bereich war, in dem sie erfolgreicher war als die Bundesrepublik. Wenn man außerdem bedenkt, dass Medaillen noch immer den Maßstab für die Spitzensportförderung darstellen, hätte man durchaus erwarten dürfen, dass die ostdeutsche Repräsentanz in den Führungspositionen adäquater ausfällt.

Gab bzw. gibt es diesseits der Elbe zu wenig geeignetes Personal?

Diese Frage ist nur im Spannungsfeld zwischen Selbstselektion und Rekrutierungsmechanismen zu beantworten. Es könnte sein, dass sich weniger geeignete Ostdeutsche aus unterschiedlichsten Gründen gar nicht erst zur Wahl stellen. Andererseits sind ihre Chancen schon deswegen geringer, weil sie nicht alle Merkmale der in der Organisation dominierenden Gruppe aufweisen oder ihre individuellen Merkmale durch die Typisierung als »ostdeutsch« überdeckt werden.

Welche Auswirkungen hat die von Ihnen ermittelte Schieflage für den organisierten Sport?

Mit der personellen Unterrepräsentation geht einher, dass Wissen, Erfahrungen und Ideen aus Ostdeutschland unterrepräsentiert sind und es als Minorität viel schwerer ist, in eine Diskussion einzusteigen, Anerkennung für die eigenen Argumente zu erlangen und sich Gehör zu verschaffen. Eine Minderheit braucht immer viel mehr Energie und Selbstvertrauen, sich zu artikulieren. Das kann dann leicht in Resignation oder Apathie umschlagen. Der Organisationsgrad in den ostdeutschen Sportvereinen ist immer noch deutlich niedriger als in den westdeutschen, ebenso das ehrenamtliche Engagement der Mitglieder. Es wäre interessant zu untersuchen, ob diese Differenzen mit der Erkenntnis und dem Gefühl der Menschen im Osten Deutschlands korrespondieren, in den Toppositionen des Sports nicht adäquat vertreten zu sein.

Gibt es weitere Facetten, bei denen Sie im deutsch-deutschen Sport eine unterschiedliche Stimmungslage wahrnehmen?

Da tut sich in der Tat noch manches interessante Forschungsfeld auf, um zu analysieren, ob die Ossis anders ticken. Eine gute Vorlage dafür ist die im Zusammenhang mit der neuen Leistungssportreform unter anderem von der Vereinigung »Athleten Deutschland« gerade angestoßene Debatte zum gesellschaftlichen Wert des Spitzensports. Die anstehende öffentliche Diskussion soll ein Stimmungsbild darüber zeichnen, warum und wie wir Spitzensport betreiben und fördern wollen. Ich bin ziemlich sicher, dass die Zustimmungswerte im Osten des Landes für den Spitzensport höher sind, auch die Landessportbünde und die Landesfachverbände in den einzelnen Sportarten hier lassen nach meinem Eindruck traditionell eine weitaus stärkere Hinwendung zum Leistungssport erkennen als in den alten Bundesländern. Entsprechende Positionen sollten sich dann im weiteren Diskussionsprozess zur Reform des Spitzensports auch wiederfinden. Umgekehrt ist immer wieder sichtbar, dass Sportkonzepte, die tatsächlich oder wahrgenommen das Leistungsprinzip aufweichen, im Osten kritischer diskutiert werden als im Westen. Die Debatte um die Reform der Bundesjugendspiele ist dafür ein Beispiel.

Der gebürtige Weimarer Lutz Thieme (57) begann 1988 ein Studium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur, welches er nach deren Auflösung an der Universität Leipzig 1992 als diplomierter Sportlehrer abschloss. Seit 2001 ist er als Professor für Sportmanagement an der Hochschule Koblenz tätig, unter anderem mit den Schwerpunkten Vereine und Verbände im Sport, Sportökonomie und kommunale Sportentwicklung. Seine Studie ist für alle zugänglich zu finden unter: https://rdcu.be/dFVdq

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