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Aus: Ausgabe vom 10.06.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Rechtsruck in Polen

Polen wird »kriegstüchtig«

Im zu Ende gegangenen EU-Wahlkampf hat sich der politische Diskurs dramatisch nach rechts verschoben
Von Reinhard Lauterbach, Poznań
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Hysterie gegenüber Russland bestimmte den EU-Wahlkampf auch von Premierminister Donald Tusk (Warschau, 4.6.2024)

Polen ist im »Sicherheits«-Fieber. Der Begriff war das zentrale Thema eines Wahlkampfs, in dem die beiden größten Parteien des Landes darum wetteiferten, wer diese »Sicherheit« garantieren könne und wer dieselbe gefährde. Selbstredend die jeweilige Konkurrenz, verstärkt um »Putin«.

Dabei hat sich gezeigt, dass die rechtskonservative Kaczyński-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) trotz Verlusts der Regierungsmehrheit nach wie vor die Diskurshoheit besitzt. Ministerpräsident Donald Tusk redet heute so wie noch im Parlamentswahlkampf vor neun Monaten sein Gegenspieler Jarosław Kaczyński. Augenfällig wird das an der Behandlung der andauernden Krise an der polnisch-belarussischen Grenze. Es gibt weiter Übertritte von Geflüchteten ohne Papiere aus dieser Richtung, aber in der Öffentlichkeit sind die humanitär-menschenrechtlichen Argumente so gut wie verschwunden, die es zu Beginn der Krise noch gab. Wo Helfer sie vorbringen, quittiert Tusk sie mit der lapidaren Bemerkung, es gebe kein Menschenrecht, in einem bestimmten Land zu leben. In aller Stille ist die Sperrzone entlang der Grenze zu Belarus, die die Tusk-Partei »Bürgerplattform« (PO) vor zwei Jahren noch als unzumutbare Belastung der Anwohner kritisiert hat, wiedereingeführt worden. Und Menschen, die versuchen, den fünf Meter hohen Grenzzaun zu durchbrechen, gelten inzwischen praktisch durchgehend als Instrumente einer hybriden Kriegführung von Russland und Belarus.

Sie werden entsprechend behandelt. Ende Mai gaben Grenzschutzsoldaten erstmals Warnschüsse auf Geflüchtete ab. Auch die werden militanter. Letzte Woche starb im zentralen Warschauer Militärkrankenhaus ein 21jähriger polnischer Soldat, der bei einem Handgemenge am Grenzzaun mit einem Messer verletzt worden war. Rückabschiebungen, die sogenannten Pushbacks, finden nach wie vor statt, teilweise werden dieselben Personen mehrfach abgeschoben. Dass das rechtlich unzulässig ist und die Schutzsuchenden im Grenzstreifen zwischen den Markierungen beider Staaten keinerlei Nahrungsmittel, Wasser oder medizinische Unterstützung haben, kümmert inzwischen niemanden mehr. Das Thema soll aus der Öffentlichkeit verschwinden. Kennzeichnend ist der Umstand, dass sich für die Flüchtingsaktivistin Janina Ochojska, die 2019 noch von der Tusk-Partei für den Sejm nominiert worden war, diesmal kein Platz auf der Liste für das EU-Parlament fand – polnische Medien schrieben, auf persönliche Initiative von Donald Tusk. Das Wort »Migrant« kommt in der öffentlichen Debatte praktisch nur noch im Zusammenhang mit dem Adjektiv »illegal« vor.

Das Thema der »illegalen Migration« ist in diesem Kontext auch das beherrschende EU-bezogene Argument des polnischen Wahlkampfs gewesen. Die PiS unterstellt der EU, im Rahmen ihres »Migrationspaktes« Polen mit genau solchen »illegalen Migranten« überschwemmen zu wollen – und das, obwohl die Regierung unter Mateusz Morawiecki den entsprechenden Ratsbeschluss aus dem Jahre 2019 seinerzeit mitgetragen hatte. Die PiS-nahen Medien zeigen in Endlosschleife Gruppen dunkelhäutiger Menschen beim Versuch, nach Polen »einzudringen«, hilfsweise tun es auch Straßenbilder aus migrantisch geprägten Stadtvierteln von Paris, Brüssel oder Berlin.

Offen zum Austritt Polens aus der EU aufzurufen, traut sich die PiS dabei nicht. Das allumfassende Argument der »Sicherheit« tut da insofern seine Wirkung, als auch Jarosław Kaczyński widerwillig zugeben musste, es sei »nicht der richtige Zeitpunkt, um über einen polnischen Austritt zu reden«. Auf exakt dieser Klaviatur spielt auch die PO von Donald Tusk. Sie versprach im Wahlkampf ein »sicheres Polen in einem sicheren Europa«, wobei insbesondere Außenminister Radosław Sikorski immer wieder mit bellizistischen Vorstößen von sich reden macht. Etwa der Forderung, der Westen solle im Angesicht des Ukraine-Kriegs keine Option von vornherein ausschließen. Es gelte, »Putin« in Ungewissheit zu halten, was er vom Gegner zu erwarten habe. Den Abschuss von russischen Raketen im Luftraum der Westukraine von polnischem Boden aus inbegriffen. Sikorski hat dabei gut reden: Er ist mit einer US-Amerikanerin verheiratet. Für ihn werden sich im Zweifelsfall immer ein Fluchtweg und ein Visum finden. Was ein Krieg für Polen bedeuten würde, kommt in der öffentlichen Diskussion nur in Form der Frage vor, ob Polen auf diesen Fall vorbereitet wäre. Die Antwort lautet: eher nein. Zu wenige Schutzräume für die Bevölkerung. Den Mangel an Vorkehrungen kompensiert die Tusk-Regierung mit Aktionismus an anderer Stelle: dem Plan, in den nächsten vier Jahren zehn Milliarden Złoty (2,5 Milliarden Euro) für einen »östlichen Schild« auszugeben. Dahinter verbirgt sich die Absicht, die polnischen Grenzgebiete zu Belarus und Russland zu befestigen, Panzersperren und Bunker zu bauen. Es ist die große Zeit der pensionierten Generäle, ihren Sachverstand auf die Frage zu verwenden, ob der Tusksche Ostwall termingerecht fertigwerden könne, ob das Geld reiche und dergleichen. Einer dieser Generäle im Ruhestand sagte dem Magazin Newsweek Polska, das Ganze stehe und falle mit dem militärischen Erfolg der Ukraine. Verliere sie, könnte Russland den ganzen Ostwall an der Südflanke umgehen. Wladimir Putins Zusicherung, Russland habe kein Interesse und keine Pläne, das NATO-Gebiet anzugreifen, glaubt in Polen niemand. Jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit.

Hintergrund: Echt oder unecht?

Am 31. Mai brachte die amtliche polnische Nachrichtenagentur PAP eine merkwürdige Meldung. Die Regierung plane, so hieß es dort, zwischen dem 1. Juli und dem 1. November in mehreren Etappen 200.000 Männer zur Armee einzuberufen und sie in der Ukraine einzusetzen. Vorwiegend Gediente, aber nicht nur. Zwei Minuten später wurde die Meldung gelöscht. Der Fall gilt seitdem als Beispiel für den russischen Hybridkrieg gegen Polen. Hacker seien ins System von PAP eingedrungen und hätten den falschen Inhalt dort plaziert. Dies ist die offizielle Version. Eine Reaktion aus Russland auf den Vorfall gab es nicht.

Es kann aber auch ganz anders gewesen sein. Insider der polnischen Medienwelt wiesen erstens darauf hin, dass die Meldung in fehlerlosem Polnisch – was bei Texten russischer Herkunft selten vorkommt – und nach allen Regeln des Agenturjournalismus abgefasst gewesen sei. Denkbar sei, dass eine sogenannte Stehsatzmeldung irrtümlich ins System gestellt worden sei. Stehsatzmeldungen sind vorformulierte Texte für einen Fall, der möglich ist, aber nicht sicher. Ein anderes Beispiel dieser Gattung sind vorproduzierte Nachrufe, die noch zu Lebzeiten ihres Helden geschrieben und bis zum Tag X in der digitalen Schublade aufbewahrt werden. Jede Redaktion hat so etwas, um im Ernstfall schnell reagieren zu können. Nach dieser Hypothese wäre die Meldung also durchaus »echt«, nur nicht zur Veröffentlichung zu diesem Zeitpunkt bestimmt gewesen.

Einen anderen Fall berichtete letzte Woche die Zeitung Rzeczpospolita. Demnach sollen unbekannte Auftraggeber an polnische Umfrageinstitute mit der Anfrage herangetreten sein, Befragungen zu Aspekten im Kontext des Krieges in der Ukrai­ne durchzuführen. Verdächtig sei die Höhe des angebotenen Honorars gewesen, außerdem der Umstand, dass die Anfragen von Gmail-Konten gekommen seien. Als wären die Russen die einzigen, die so etwas können. (rl)

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