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Aus: Ausgabe vom 10.06.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Rechtsruck in Polen

Hexenjagd auf Saboteure

Parallel zur militärischen läuft die geistige Aufrüstung Polens
Von Reinhard Lauterbach, Poznań
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Einkaufszentrum in Warschau in Flammen (12.5.2024)

Ein Freund Russlands zu sein ist in Polen schon lange der politische Universalvorwurf. Kindesmissbrauch in der Sakristei ist nichts dagegen, auch das sprichwörtliche »Überfahren einer schwangeren Nonne auf dem Zebrastreifen« verblasst als Anlass, sich politisch unmöglich zu machen. Neuerdings kommt eine von oben geschürte Spionage- und Sabotagehysterie hinzu. Hinter jedem spektakulären Unglück wird eine russische oder belarussische Hand vermutet. Angefangen mit dem Abfackeln einer Pizzeria in Gdynia vor einem Jahr, das unmittelbar nach dem Brand keine größere Aufmerksamkeit erregt hatte. Jetzt aber streut die Regierung, es gebe »Indizien« dafür, dass Russland vor allem in Polen lebende Ukrainer über soziale Medien zu Brandstiftungen anheuere – gegen ein eher bescheidenes Honorar von einigen tausend Euro pro Fall. So soll beispielsweise das Feuer, das am Pfingstwochenende eine Warschauer Markthalle zerstörte, in der vor allem vietnamesische Händler Billigklamotten verkauft haben, nicht auf Baumängel oder Abrechnungen im organisierten Verbrechen zurückzuführen sein, sondern auf Anstiftung aus dem Osten. Dito der Brand eines Busdepots und einer Mülldeponie. Als Motiv der angeblich aus Moskau gesteuerten Brandstiftungen soll herhalten, Russland wolle die polnische Gesellschaft »verunsichern« und »spalten« – als gäbe es ein vernünftiges Argument, den Brand einer Markthalle gut zu finden.

Die tatsächlichen Ermittlungen gehen indes bei weitem nicht so zügig voran, wie die Regierung mit Verdächtigungen um sich wirft. Letzte Woche meldete die Zeitung Rzeczpos­polita, dass die polnische Polizei noch immer nicht begonnen habe, in der abgebrannten Markthalle Spuren zu sichern – weil das Warschauer Bauamt noch keine Abrissgenehmigung für die Ruinen erteilte. Was ja ohnehin eher darauf hindeutet, dass mögliche Spuren vertuscht werden sollen, als darauf, dass welche gesucht werden.

Die amtlichen Vorwürfe stützen sich durchweg auf »Hinweise bei den Geheimdiensten«. Die haben vor einigen Wochen einen in Polen lebenden Ukrainer festgenommen, der inzwischen gestanden haben soll, Transportwege des westlichen Militärnachschubs für die Ukraine ausgespäht zu haben – oder der nach anderen Versionen dies geplant habe. Er habe auch Hinweise auf die Hintermänner der Brände gegeben.

Diese Konzeption krankt allerdings an inneren Widersprüchen. Entweder ist der Mann über soziale Netzwerke rekrutiert worden – dann dürfte er aber kaum seine Auftraggeber mit der behaupteten Präzision dem russischen Militärgeheimdienst GRU zuordnen können. Besagte Rekrutierungsmethode dient ja gerade dazu, Hintermänner nicht offenzulegen. Ebenso lässt sich das von den polnischen Diensten unterstellte »Netzwerk an Saboteuren« nicht mit der Angabe in Einklang bringen, die Leute seien »Wegwerfagenten« gewesen, die im Internet mit Jobangeboten angeworben worden seien.

So kann man mit mindestens derselben Wahrscheinlichkeit die Vermutung äußern, dass Kleinkriminelle im Verhör mit dem Angebot geködert worden sein könnten, ihre Lage durch Angaben zu »russischen Auftraggebern« zu verbessern. Eine Kampagne, die sich allein auf wirkliche oder vermeintliche Geständnisse Verdächtiger stützt, die nie jemand gesehen oder unabhängig befragt hat – es sieht jedenfalls eher danach aus, dass hier eine öffentliche Hysterie geschürt werden soll, weil der durchschnittliche Pole Russland sowieso alles zutraut.

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  • Leserbrief von Holger K. aus Frankfurt (9. Juni 2024 um 22:41 Uhr)
    Immer wieder neu ist es sinnvoll, die altrömische Frage »cui bono« zu stellen, also: wem da was nutzt, bzw. Wer hat davon einen Vorteil. Russland könnte jedenfalls keinen Vorteil verbuchen, wenn es denn Drahtzieher irgendwelcher Anschläge in Polen wäre, sei es als direkter Akteur, sei es als Auftraggeber und so in Polen Hysterie und Hass hervorriefe. Anders hingegen die polnische Regierung, die bei einer Schuldzuweisung Russlands, so eine Kriegsstimmung gegen dieses Land entfachen würde. Warum, so fragt man sich doch, sollte Russland so behämmert sein und einen weiteren grimmigen Feind vor sich haben zu wollen. Offensichtlich kommt der gesunde Menschenverstand in den Wertestaaten zusehends unter die Räder, hingegen wuchert das irrationale, paranoide und hysterische zusehends. All das ein Zeichen einer krisengeschüttelten Gesellschaft, deren Regierung/en dem Gros der Bevölkerung nix mehr zu bieten hat und für die eigenen Fehler und eigenes Versagen dringend einen Sündenbock sucht und ihn dann stets auch findet. Bei frustriert-einfach gestrickten Gemütern geht dann die reaktionäre Saat meist auf, denn das Fremde, das Andere zu geißeln, ist für solche Typen angenehmer, als die eigene Herrschaft in Frage zu stellen. Der katholische Glaube scheint hierbei alles Unvernünftige und Hirnrissige zu forcieren.

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