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Aus: Ausgabe vom 10.06.2024, Seite 4 / Inland
Ukraine

Staat wichtiger als Menschen

Bundesregierung hält trotz Krieg an Zumutbarkeit der Passbeschaffung im Herkunftsland für Ukrainer fest
Von Karim Natour
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Pässe nur noch für ordnungsgemäß erfasste Rekruten (Odessa, 24.6.2024)

Dass ukrainische Männer wehrfähigen Alters im Krieg gegen Russland an der Front verheizt werden, stört die Bundesregierung wenig.

In der Antwort auf eine Frage der Bundestagsabgeordneten Clara Bünger (Linke) vom Mittwoch, die junge Welt vorliegt, heißt es dazu recht eindeutig: »Bei einer Abwägung zwischen den persönlichen Interessen ukrainischer Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren (…) und den Interessen des ukrainischen Staates an einer wirksamen Verteidigung in einer existentiellen kriegerischen Notlage (…) ist es bei einer Gesamtbetrachtung vertretbar, dass die Interessen des einzelnen hinter denen des Staates als Ganzes zurücktreten müssen.«

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist laut Völkerrecht ein Menschenrecht. So geht der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen davon aus, dass ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Gewissensfreiheit vorliegt, wenn jemand wider sein Gewissen zum Kriegsdienst gezwungen wird. In der Ukraine ist dieses Recht für den Großteil der Bevölkerung ausgesetzt, nur Mitglieder bestimmter religiöser Gemeinschaften dürfen das Recht wahrnehmen.

Bisher sind seit der russischen Invasion im Februar 2022 laut US-Geheimdienstkreisen bis zu 60.000 ukrai­nische Soldaten getötet worden. Im Ablauf desselben Zeitraums sind dem Bundesinnenministerium zufolge über 200.000 ukrainische Männer wehrpflichtigen Alters nach Deutschland eingereist. Weil Kiew langsam die Soldaten ausgehen, hat das Parlament im April ein strengeres Mobilmachungsgesetz verabschiedet. Reisedokumente werden daher im Ausland nur noch bei vorhandenen Wehrpapieren ausgestellt. Die wiederum sind nur bei einer Rückkehr in die Ukraine erhältlich. Neben Geldstrafen für ignorierte Einberufungen kann auch die Fahrerlaubnis eingezogen werden.

Wenn kein gültiger Pass vorliegt, droht militärdienstpflichtigen Ukrainern in Deutschland laut Bundesregierung zwar vorerst keine Abschiebung. Allerdings werden offizielle Dokumente im Alltag dringend benötigt, zum Beispiel bei einer Heirat, der Geburt eines Kindes oder wenn man ein Konto eröffnen will. Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl und der Verein Connection, der Deserteure unterstützt, forderten die deutschen Behörden wiederholt auf, den Betroffenen Passersatzpapiere auszustellen.

Zu der Frage, ob ukrainische Männer, die sich weigern, in den Krieg zu ziehen, und deswegen keine Fahrerlaubnis mehr besitzen, in Deutschland wegen des Fahrens ohne Führerschein strafrechtlich verfolgt werden dürfen, liegen der Bundesregierung »keine Erkenntnisse« vor. Die Strafverfolgung obliege den »zuständigen Strafverfolgungsbehörden und Gerichten der Länder«.

Ukrainische Männer im wehrfähigen Alter werden in Deutschland also de facto in den Krieg gedrängt, wenn sie offizielle Dokumente benötigen. Nach dem Aufenthaltsgesetz kann zwar unter besonderen Umständen die Unzumutbarkeit der Passbeschaffung im Herkunftsland festgestellt werden, eine bestehende Wehrpflicht gehört jedoch nicht prinzipiell dazu. Die Teilnahme am Wehrdienst in Kriegsgebieten hingegen gilt als unzumutbar. Zu diesem Ergebnis kommt der Rechtsanwalt Matthias Lehnert in einem Gutachten für Pro Asyl aus dem März 2024 – und beruft sich dabei auf ein Papier des Innenministeriums, in dem es heißt: »Nicht zumutbar ist die Rückkehr in Kriegsgebiete (…) als aktiv wehrdienstleistende Person.«

»Die Lage ukrainischer Männer, die von der Einberufung bedroht sind, ist der Bundesregierung herzlich egal«, kommentierte Bünger die Antwort der Bundesregierung gegenüber junge Welt. Dass die in der Ukraine bestehende Wehrpflicht nicht grundsätzlich zur Unzumutbarkeit der Passbeschaffung führe, sei eine »ziemlich autoritäre Haltung«, die das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung »kurzerhand für nachrangig erklärt«. Das sei »erschreckend«, aber angesichts der »hierzulande fortschreitenden Militarisierung der Gesellschaft leider alles andere als überraschend«.

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