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Aus: Ausgabe vom 10.06.2024, Seite 10 / Feuilleton
Film

Schweden, du hattest es besser

Endlich wieder zu sehen: »Frau ohne Gesicht« von 1947 nach einem Drehbuch von Ingmar Bergman
Von Frank Jöricke
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Gegen sie wirkt selbst Marlene Dietrich wie ein Mauerblümchen: Gunn Wållgren

Ein Gedankenspiel: Wie hätte Deutschland 1947 ausgesehen, wenn Hitler nicht an die Macht gekommen wäre? Wenn es Reichskanzler Kurt von Schleicher gelungen wäre, im Amt zu bleiben und mit Hilfe von Gregor Strasser die NSDAP zu spalten? Wenn sich die Wirtschaft – wie in den USA – seit 1934 wieder erholt hätte? Wenn es keinen Zweiten Weltkrieg gegeben hätte?

Nun, dann hätte Deutschland vielleicht so ausgesehen wie Schweden im Jahr 1947. Dafür braucht man keine Historiker, sondern das Kino. Es zeigt uns – selbst, wenn es »nur« unterhalten will –, wie die Welt damals aussah oder zumindest wie man sie sich wünschte. Deshalb sind selbst die kitschigen westdeutschen Heimatfilme der 50er Jahre auf verquere Weise wahrhaftig. Sie offenbaren die Sehnsucht nach einem Idyll, das nach den äußeren und inneren Verwüstungen zwischen 1933 und 1945 unerreichbar geworden war.

Die Schweden hatten es da natürlich besser. Sie überstanden die verheerenden 30er und 40er Jahre nahezu unbeschadet. In ihrem Land hatte es 1933 keinen Zivilisationsbruch gegeben; die Demokratie funktionierte weiterhin. Auch war es Schweden durch geschicktes Lavieren und eine gehörige Portion Opportunismus gelungen, den Zweiten Weltkrieg von der Tribüne aus zu betrachten. Die Taten, derer man sich dabei schuldig machte, waren – verglichen mit denen der Deutschen – Bagatelldelikte.

Die Schweden mussten nichts verdrängen. Das machte es ihnen leicht, sich die Gegenwart unvoreingenommen anzuschauen. Und wer besonders genau hinsah, war Ingmar Bergman. Bereits in seinen ersten Drehbüchern, die der Regisseur Gustaf Molander verfilmte, stieg der streng erzogene Pastorensohn in die Abgründe der menschlichen Psyche hinab.

Diese Filme – quasi sein Frühwerk vor dem Frühwerk – sind heute nahezu unbekannt. Um so dankbarer muss man denen bei Netflix sein, die eben nicht nur Serien und gut abgehangene Blockbuster vorführen (Gibt es eigentlich irgend jemanden, der »Pretty Woman« noch nicht gesehen hat?), sondern immer mal wieder auch schwedische, niederländische und italienische Werke aus den 40er und 50er Jahren, die selbst in exotischeren Programmkinos nie liefen.

»Frau ohne Gesicht« aus dem 1947 ragt dabei heraus. Ein klassischer Film noir, nein, eigentlich noch düsterer als Hollywoods Schwarze Serie. Denn während dort das Böse die Gestalt von Gangstern annimmt – ein paar Schießereien waren immer gut, um die Kinos zu füllen –, sind es bei Ingmar Bergman die braven Bürger, die die Nerven verlieren. Und dafür brauchen sie nicht einmal Handfeuerwaffen. Es genügt, dass eine Femme fatale auftaucht.

Die spielt in diesem Fall Gunn Wållgren (die Jahrzehnte später durch »­Fanny und Alexander« auch einem internationalen Publikum bekannt wurde). Wie sie das tut, ist das erste Wunder dieses wundersamen Films. Ihr Auftreten – oder sagen wir besser: ihre Anmache – ist derart direkt, dreist und offensiv, dass selbst eine Marlene Dietrich dagegen wie ein Mauerblümchen wirkt.

In einem klassischen Film noir würde man sich mit dieser Charakterschablone begnügen, um eine Amour fou in Gang zu setzen. Doch Bergman betrieb schon als 28jähriger seelische Tiefenbohrungen. Er wollte erforschen und anschaulich machen, warum sich ein Mensch auf eine bestimmte Weise verhält. Das ist das zweite Wunder: Ein »Luder« wird als psychisch komplexe Frau dargestellt, für die man Verständnis entwickelt.

Und dann erst die Story: Da ist von versuchtem Suizid über Ehebruch bis sexueller Gewalt alles dabei. Das ist das dritte, das eigentliche Wunder des Films: dass all diese Dinge im schwedischen Kino des Jahres 1947 öffentlich zur Sprache kamen. Würden nicht Autos und Mode auf längst vergangene Tage verweisen (Männer trugen noch Hut), man könnte diesen Film auch in der Gegenwart verorten.

Mit einem Mal begreift man, dass die vermaledeiten zwölf Jahre der deutschen Geschichte in Wahrheit viel länger dauerten. Es fehlten ja nicht nur Regisseure wie Billy Wilder, Robert Siodmak, Otto Preminger und Fritz Lang, die in die USA emigriert waren. Es fehlte eine komplette Welt, auf die man sich hätte beziehen können. Die Aussage, dass alles in Trümmern lag, galt eben auch für das geistig-kulturelle Leben. Selbst wenn man gewollt hätte, wäre es nicht mehr möglich gewesen, an die Filme der Weimarer Republik anzuknüpfen. Das gesellschaftliche Bewusstsein hatte sich – anders als in Schweden – zurückentwickelt.

Und wenn man aktuelle deutsche Filme und Serien mit schwedischen vergleicht, dann hat man das Gefühl, dass dieser Rückstand bis heute nicht aufgeholt werden konnte.

»Frau ohne Gesicht«, Regie: Gustaf Molander, Schweden 1947, 103 Min., auf Netflix

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