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Aus: Ausgabe vom 10.06.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Route vom Atlantik zum Pazifik

Ein uralter Traum

Der nördliche Seeweg: Andreas Renners Geschichte der Nordostpassage kommt nicht ohne parteiliche Positionierung zur Gegenwartspolitik aus
Von Burkhard Ilschner
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Endstation Nowaja Semlja: Die beiden Schiffe der dritten und letzten Barents-Expedition 1596/97

Eines ist sicher: Andreas Renners »erste umfassende Monographie über die Erschließung der Nordostpassage« (Klappentext) ist ein spannendes und lehrreiches Buch, das man, einmal begonnen, kaum wieder aus der Hand legen mag. Die Rede ist vom uralten Traum vieler Seefahrer und Forscher, die Strecke zwischen dem Europäischen Nordmeer und der Tschuktschensee per Schiff zurückzulegen – also eine nördliche Route vom Atlantik zum Pazifik zu erschließen. Was lange Zeit vom arktischen Eis erschwert bzw. verhindert wurde, ist seit vergleichsweise wenigen Jahren aufgrund der Folgen des Klimawandels dauerhaft möglich geworden.

Der in München lehrende Historiker Renner wagt einen großen Wurf. Sein »Überblick über die gesamte Geschichte« dieses Seewegtraums beginnt im 16. Jahrhundert (die Zeit »vor 1500« wird nur stichwortartig erwähnt) und reicht bis in die Gegenwart. Einerseits hat Renner ein herausragendes Werk vorgelegt, in dem er sehr detailliert aufschlussreiche, oft auch bislang unbekannte Fakten über diese Arktisregion liefert. Er schreibt meist ebenso verständlich wie informativ und unterhaltsam. Das Buch hätte als prima Geschichtsschmöker mit Abenteuerflair dastehen können, wenn der Autor sich nicht zu häufig und oft leider auch unsachlich auf Russlands vermeintliche aktuelle Machtansprüche fokussiert hätte.

Zunächst zum Inhalt dieses Buches, das durch ausführliche Quellen- und Literaturverzeichnisse, Register und Zeitleiste zusätzlich gewinnt und lesenswert wird. Renner beginnt seine Zeitreise vor rund 500 Jahren mit den Unternehmungen des britischen Kaufmanns und Navigators Richard Chancellor und seinen Geschäften mit Zar Iwan IV., dem »Schrecklichen«. Er spannt den Bogen von den wagemutigen Fahrten etwa italienischer oder niederländischer Seefahrer im 16. bis zu Vitus Berings legendärer, zehn Jahre dauernder Arktisexpedition im 18. Jahrhundert. Abenteurer und Wissenschaftler wie Ferdinand von Wrangel oder Adolf Erik Nordenskiöld im 19. Jahrhundert fehlen ebenso wenig wie Abstecher in andere Arktisbereiche. Wie schwierig sich die Erforschung dieser Polarregion und eines Seewegs durch sie hindurch gestaltete, wird deutlich unter anderem an den Etappen dieser Erschließung: Vom Westen ausgehend, erfolgte sie etappenweise von Flussmündung zu Flussmündung gen Osten. Erst 1932 gelang dem Eisbrecher Aleksandr Sibirjakow erstmals eine Fahrt von Archangelsk durch die Beringstraße bis Wladiwostok – eindringlich fesselnd die Schilderung der damit verbundenen Strapazen.

Zum aktuellen Teil ist zunächst eine Kleinigkeit zu korrigieren: Ausführlich beschreibt Renner die Fahrt zweier Schwergutfrachter der Bremer Reederei Beluga Shipping im Jahre 2009 von Wladiwostok bis Murmansk. Zu Recht spießt er den hierzulande zelebrierten Medienrummel auf, irrt dann aber leider in einem Detail: Reeder Niels Stolberg hat sein Unternehmen nicht »auflösen« müssen – er wurde von den Miteignern, die er selbst »ins Boot« geholt hatte, über Nacht davon gejagt, als die jene Geschäftspraktiken entdeckten, wegen derer Stolberg später verurteilt wurde.

Abgesehen von derlei Petitessen verdienen zwei Schlussbemerkungen Renners besondere Erwähnung. »Ohne Klimawandel, Coronapandemie und Ukraine-Krieg« hätte er »die Geschichte des ältesten Seewegs durch die Arktis anders erzählt«, räumt er im »Epilog« ein. Kurz zuvor hat er den Hauptteil seines Buches beendet mit der Feststellung, der nördliche Seeweg bedeute für Wladimir Putin »ein Sprungbrett für Russlands Zukunft und neue Machtfantasien«. Putins politische Pläne werden sehr unterschiedlich beschrieben und bewertet. Hier ist nicht die Gelegenheit, das zu vertiefen. Aber die Art und Weise, wie Renner Moskaus Arktispolitik beschreibt und kommentiert, wirkt in vielerlei Hinsicht unsachlich und parteilich. Und das ist schade.

Auch Lenins Verdienste etwa um die Gründung des bis heute bestehenden Arktisinstituts sind ihm nur wenige Zeilen wert. Ausgiebig – und dies ist nur ein Beispiel – widmet er sich hingegen der Marinedoktrin der Russischen Föderation von 2022. Angeblich werden darin Bestimmungen der UN-Seerechtskonvention (UNCLOS) von Moskau einseitig interpretiert; das sei hier mal so angenommen. Aber Renner führt als Hauptkritiker die USA an und erwähnt nur in einem Nebensatz, dass Washington UNCLOS bis heute gar nicht anerkennt. Russland hingegen als Nachfolger der UdSSR zählt zu den Pionieren und Erstunterzeichnern dieses Vertrages.

Wenn nun Moskau das darin enthaltene Recht freier Durchfahrt auch durch küstennahe Gewässer einschränkt und Kontrollrechte beansprucht, ist das eine Sache. Aber gerade die USA, die für ihre Gewässer und Küsten ein viele Seerechtsnormen ignorierendes Management pflegen, sollte ein seriöser Wissenschaftler nicht zum Kronzeugen erklären. Falls nötig, obliegt die Beurteilung solcher Unstimmigkeit dem Internationalen Seegerichtshof in Hamburg. Dort jedoch ist bislang kein Verfahren anhängig.

Andreas Renner: Nordostpassage. Geschichte eines Seewegs. Mare, Hamburg 2024, 272 Seiten, 28 Euro

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