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Aus: Ausgabe vom 13.06.2024, Seite 2 / Ausland
Politische Verfolgung

»Armut und Abstiegsängste eskalieren«

Über Verfolgung in der Türkei und das Erstarken der extremen Rechten in Frankreich. Ein Gespräch mit Pınar Selek
Interview: Gitta Düperthal
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Jagt seine Kritiker mit Interpol auch international: Der türkische Staatschef Erdoğan (Istanbul, 30.3.2024)

Sie leben in Frankreich im Exil, lehren dort als Soziologin an einer Hochschule, weil Sie in der Türkei politisch verfolgt sind. Nachdem Sie von der angeblichen Beteiligung an einem Terroranschlag in Istanbul mehrfach freigesprochen wurden, wird Sie ein türkisches Gericht am 28. Juni erneut dessen beschuldigen. Mit welchen Folgen?

Vor 26 Jahren wurde ich in der Türkei erstmals vor Gericht gestellt. Ich wurde inhaftiert und gefoltert, weil ich mich im Rahmen meiner Forschung über den kurdischen Widerstand weigerte, die Identität von Interviewten preiszugeben. Das ist soziologische Berufsethik. Angeklagt war ich wegen eines vermeintlichen »Attentats« auf dem Gewürzmarkt in Istanbul. Tatsächlich handelte es sich um eine Gasexplosion. Eine Reihe von Prozessen endete mit Freispruch, weil es keine Beweise gibt. Die erneut geführte Anklage gegen mich bereitet auch meiner Familie in Istanbul Probleme. Der Kampf gegen die Ungerechtigkeit kostet sie Energie und Zeit. Und ja, es gibt Drohungen extrem rechter Türken gegen mich in Frankreich. Aber wir sollten nicht nur darüber reflektieren. Wichtiger ist, über die mir entgegengebrachte Solidarität zu reden: über gemeinsame Kämpfe aus ganz unterschiedlichen Kreisen und international für eine bessere Welt, die daraus entstehen.

Inwiefern beeinträchtigt der gegen Sie vorliegende internationale Haftbefehl Ihre wissenschaftliche Arbeit?

Der türkische Staat hat dafür gesorgt, dass Interpol seinen nationalen Haftbefehl übernimmt. Als französische Staatsbürgerin bin ich nur in Frankreich geschützt. Wenn ich aber zum Beispiel für das Datenmigrationsprojekt in den Alpes-Maritimes, das Migration in Frankreich und Italien untersucht, für Recherchen über die Grenze nach Italien reisen würde, könnte ich dort verhaftet werden.

Was bedeutet aus Ihrer Sicht der Erfolg des extrem rechten Rassemblement National bei den EU-Wahlen und dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die französische Nationalversammlung auflöst und Neuwahlen ankündigt?

Ich bin Frau, Ausländerin, feministische und ökologische Aktivistin, was die extreme Rechte in Frankreich für ihre Vorstellung eines faschistischen Systems als gefährlich einstuft. Ich habe mich dem türkischen Regime nicht unterworfen, werde mich auch keinem europäischen Faschismus unterordnen. Fragt sich: Wie konnte es so weit kommen? Das steht nicht in der Verantwortung der Linken, sondern ist der neoliberalen Politik und Ökonomie der Regierung des Macron-Lagers zuzuschreiben. Deshalb sind Armut und soziale Abstiegsängste eskaliert. Es reicht nicht, den Faschismus zu bekämpfen. Wir müssen nun Alternativen aufzeigen: Unseren linken Kampf für Frauenrechte, die Humanität und das Leben einheitlich und universell führen und wir dürfen uns nicht in Einzelinteressen aufspalten lassen. Die Linke sollte jetzt Feministinnen, Migranten und andere Gruppierungen in ihren Wohnvierteln aufsuchen, um sie zu organisieren. Ich bin optimistisch, dass wir es so schaffen können, alle unter unserem Dach zu versammeln.

Mit den Kommunalwahlen am 31. März in der Türkei änderte sich die Lage zugunsten der Opposition. Deren Unterdrückung könnte sich weiter verhärten, weil Erdoğans AKP/MHP-Regime sich in der Verliererposition sieht.

Der türkische Faschismus geht gegen jegliches freie Leben vor. Die Regierung hat alle Hemmungen verloren, will gar frei auf den Straßen herumlaufende Hunde töten. Ich versuche den Kampf für alle unterdrückten Gruppen zu führen: Armenier, Kurden, die Frauen. Wenn Du für andere kämpfst, kämpfst Du letztlich auch für Dich selber.

Wissenschaftler fordern den Europarat auf, Sie aufgrund des gegen Sie ergangenen internationalen Haftbefehls zu verteidigen. Gibt es viel Solidarität für Sie?

Menschen, die sich im Zuge der Kampagne für mich treffen, sind international und gehören sehr unterschiedlichen Gruppen an, etwa auch der schwulen Community. Sie treffen sich, knüpfen Freundschaften miteinander. Allein das ist eine große Chance, die Verhältnisse zu ändern.

Pınar Selek ist Soziologieprofessorin und Schriftstellerin

Lesung aus »Die Unverschämte. Gespräche mit Pınar Selek.«, Mainz-Gonsenheim, Dienstag, 18. Juni, 18.30 Uhr, Alevitische Gemeinde Mainz, Am Hemel 2

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