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Aus: Ausgabe vom 13.06.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Krieg im Nahen Osten

Ziel: »Iron Dome«

Nahostkonflikt: Angriffe der libanesischen Hisbollah reißen Lücken in israelische Verteidigung. Washington warnt vor Eskalation
Von Wiebke Diehl
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Nicht so »eisern« wie erhofft gegenüber den Angriffen der Hisbollah: Raketenabwehrsystem in Sderot (6.8.2022)

Die US-Regierung hat Israel angesichts der eskalierenden militärischen Auseinandersetzungen mit der Hisbollah an der Nordgrenze vor einem Krieg gegen den Libanon gewarnt. Man fürchte, eine Bodeninvasion im Nachbarland könne den Iran zu einer Intervention bewegen, so die US-Nachrichtenseite Axios in der vergangenen Woche unter Berufung auf zwei US-Beamte. Vom Iran unterstützte Kämpfer aus dem Irak, aus Syrien und anderen Ländern könnten in den Zedernstaat strömen und sich der Hisbollah anschließen. Ein »begrenzter« oder ein »kleiner regionaler Krieg« seien nach Auffassung der US-Regierung keine realistische Option, denn die Situation drohe außer Kontrolle zu geraten. Washington habe Tel Aviv seine Einschätzung überbracht, dass der gegenseitige Beschuss an der Nordgrenze Israels nur durch einen Waffenstillstand in Gaza beendet werden könne.

Vertreter der Hisbollah machen ein Ende des Gazakriegs und die Versorgung der dortigen Bevölkerung mit humanitären Hilfsgütern zur Bedingung für ein Ende des längst tobenden, wenn auch bislang begrenzten Kriegs an der israelisch-libanesischen Grenze. Neben dem »Entlastungskrieg«, der Teile der israelischen Armee im Norden binden soll, um der Hamas und anderen bewaffneten Kräften sowie der Bevölkerung Gazas Erleichterung zu verschaffen, begreift die »Partei Gottes« ihre Militäroperationen auch als Selbstverteidigung – als Schutz des Libanon vor einer Invasion, wie sie Mitglieder der Regierung unter Benjamin Netanjahu seit vergangenem Oktober wiederholt angedroht haben.

Die Warnungen aus Washington erfolgen nicht im luftleeren Raum: Israel steht seit dem 8. Oktober unter täglichem Beschuss aus dem Libanon, der zunächst im Verhältnis zu den militärischen Fähigkeiten der Hisbollah sehr begrenzt war, sich aber über die Monate intensiviert hat. Die aus dem Norden evakuierten Israelis werden zunehmend ungeduldig, und ihr Vertrauen, dass Staat und Armee für ihre Sicherheit garantieren können, sinkt rapide. So sollen seit dem 8. Oktober 930 Wohnhäuser in 86 Ortschaften beschädigt worden sein. Vor einer Woche brachen im Norden Israels großflächige Brände aus, verursacht durch nicht abgefangene Geschosse der Hisbollah. Laut einer im Mai veröffentlichten Studie des Tel-Hai Academic College erwägen 40 Prozent der Evakuierten, auch nach einem Ende des Krieges nicht in ihre Häuser zurückzukehren.

Und seit Mai eskaliert die Situation an der Grenze zusehends. Sowohl in der Armee als auch im Verteidigungsministerium Israels geht man laut dem Bericht von Axios davon aus, dass die militärischen Auseinandersetzungen einen Wendepunkt erreichen könnten. So hat die Hisbollah, die als stärkster bewaffneter nichtstaatlicher Akteur der Welt gilt, zunehmend ihre Fähigkeiten unter Beweis gestellt, auch hochentwickelte israelische Drohnen über dem Südlibanon abzuschießen, darunter mehrere »Hermes«-Drohnen. Auf den letzten, am Montag erfolgten Abschuss einer solchen Drohne reagierte die Armee mit den schwersten Luftangriffen im Libanon seit Beginn des Krieges am 7. Oktober. Im Mai führte die Hisbollah unter Einsatz einer mit S5-Luft-Boden-Raketen bestückten Drohne gegen die Ortschaft Metula den ersten arabischen Luftangriff auf Israel seit 1973 aus. Vor einer Woche und erneut am Montag und Dienstag gelang es ihren Kämpfern, israelische Kampfflugzeuge mit Flugabwehrraketen zum Rückzug aus dem libanesischen Luftraum zu zwingen.

Vor allem aber hat die Hisbollah in den vergangenen acht Monaten systematisch Überwachungsanlagen an der Grenze zerstört. Je größer die Lücken in der Luftverteidigung Israels werden, desto ungestörter und tiefer können Raketen bis ins Innere des Landes geschossen werden. So gab es am Mittwoch von der Hisbollah rund 160 Vergeltungsangriffe in Reaktion auf die gezielte Tötung ihres ranghohen Kommandeurs Talib Abdallah in der Nacht zuvor, die nach Medienberichten bis Tiberias am See Genezareth reichten. Dabei bedient sich die Hisbollah immer präziserer Waffen. Zerstört wurde auch der 230 Millionen US-Dollar teure Spionageballon »Sky Dew«, der entwickelt worden war, um tieffliegende Drohnen und Raketen zu erkennen – etwa aus dem Libanon, dem Irak und aus Syrien. Auch die Meron-Überwachungsbasis, die für die Einsatzfähigkeit der Luftwaffe von entscheidender Bedeutung ist, wurde mehrfach getroffen. Sie ist neben Mitzpe Ramon im Süden einer der Hauptstützpunkte in Israel und für die Koordinierung und Durchführung aller Luftoperationen im Libanon und in Syrien verantwortlich. Die gezielten Angriffe der Hisbollah auf das Überwachungssystem – nach eigenen Angaben hat sie bereits mehr als 1.650 Bestandteile des Geheimdienst-, Überwachungs- und Angriffssystems zerstört – haben die »Eiserne Kuppel« (Iron Dome) empfindlich beschädigt. Das würde es auch dem Iran deutlich erleichtern, Israel anzugreifen.

Vor wenigen Wochen konstatierten israelische Medien, darunter das Portal Ynet, die Hisbollah habe bislang lediglich fünf Prozent ihres Waffenarsenals eingesetzt, der Norden habe sich aber dennoch längst zur »Hauptfront« entwickelt. Die Hisbollah erziele präzise Treffer und sei immer erfolgreicher bei ihren Versuchen, die Luftabwehrsysteme zu umgehen. Israelische Militärs und Geheimdienstler sprechen immer dringendere Warnungen aus – insbesondere vor einem Krieg gegen den Libanon. Israel sei durch die Hisbollah einer »existentiellen Bedrohung« ausgesetzt, warnte etwa der israelische Generalmajor der Reserve Gershon Hacohen im israelischen Fernsehkanal Channel 14. Die Armee verfüge nicht über die Fähigkeiten, die Bedrohungen durch die Hisbollah zu beseitigen.

Hintergrund: Invasion verhindern

Wiederholt haben hochrangige Vertreter der Hisbollah betont, keinen Krieg mit Israel beginnen zu wollen. Die Kampfhandlungen an der Grenze, durch die faktisch eine »Sicherheitszone« innerhalb Israels geschaffen wurde, wie sie die israelische Armee in vergangenen Jahrzehnten ihrerseits in den Nachbarländern einrichtete, bezeichnet man als Selbstverteidigung. Im Windschatten des Gazakriegs habe Tel Aviv bereits im Oktober ernsthaft in Erwägung gezogen, auch den Libanon anzugreifen, um die Hisbollah zu zerstören, erklärte deren Generalsekretär Hassan Nasrallah im Januar. Einzig die Aufrechterhaltung des Drucks durch Militäreinsätze an der Grenze habe Schutz vor einer israelischen Invasion garantiert.

Ende Mai bezeichnete Nasrallah die seit Oktober andauernden Kämpfe in der Nahostregion als bedeutend für »die Zukunft des Libanon, seine Ressourcen und seine Souveränität«. Er lässt keinen Zweifel an der Bereitschaft der Hisbollah, in einem möglichen umfassenden Krieg ihre gesamte Kampfkraft und ihr komplettes Waffenarsenal einzusetzen: Im Falle einer Invasion werde es »keine Grenzen, keine Beschränkungen und keine Einsatzregeln« geben. »Wenn uns der Krieg erklärt wird, wird das nationale Interesse von uns verlangen, den Krieg bis zum Ende zu führen«, so Nasrallah zu Beginn des Jahres.

Die Hisbollah wurde im Jahr 1982 in Reaktion auf die israelische Besetzung im Libanon gegründet. Nicht nur wird ihr zugeschrieben, Israels Abzug im Mai 2000 erzwungen zu haben. Im Jahr 2006 hielt sie auch einer israelischen Libanon-Invasion stand. Die Armee musste nach 33 Tagen abziehen, ohne ihre militärischen Ziele erreicht zu haben. Ihre bewaffnete Präsenz neben der regulären Armee legitimiert die Hisbollah mit der andauernden israelischen Besetzung der Schebaa-Farmen und der jederzeitigen Möglichkeit einer neuerlichen Invasion. (wd)

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