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Aus: Ausgabe vom 14.06.2024, Seite 12 / Thema
Spielen und Strafen

Polizeifestspiel EM

Serie. Die Fußballeuropameisterschaft in Deutschland beginnt. Einsatzkräfte haben im Vorfeld des Turniers fleißig geübt. Staatsfeind Fan (Teil 4 und Schluss)
Von Oliver Rast
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»Antiterrorübung« der Polizei Baden-Württemberg im Stadion des VfB Stuttgart (14.5.2024)

Es ist ein wilder Mix, alles wird verrührt, ein übler Brei. Hooligans marodieren, Dschihadisten massakrieren, Hacker sabotieren. Szenarien für den Nervenkitzel, Sequenzen für ein bisschen Horror. Kaum ein Tag in den zurückliegenden Wochen ohne Krawall-News. Auf allen Kanälen. Besonders im Fokus: Fans. Richtig, die Fußballeuropameisterschaft (EM) steht an, beginnt am Freitag mit dem Eröffnungskick in München. BRD gegen Schottland, die Elf des Deutschen Fußballbunds (DFB) gegen jene der Scottish Football Association (SFA). Gespielt wird also. Fußball. Vielleicht ansehnlich, unterhaltsam, torreich. Nur, gewissermaßen auf dem »Nebenplatz«. Denn Überwacher und Strafer halten die Arenen und alles drumherum besetzt. Eine wirklich wahre Drohkulisse. Steile These? Zu steil? Keineswegs.

Hysteriker am Werk

Einer unter Dauerstrom ist UEFA-Präsident Aleksander Čeferin. »Mehr und mehr Gewalt. Mehr und mehr Aggression. Die Weltlage ist nicht ideal«, sagte er wenige Tage vor dem EM-Auftakt gegenüber dpa. Eine wollte dem slowenischen Verbandsfunktionär in nichts nachstehen. Richtig, die Ressortchefin des Bundesinnenministeriums (BMI), Nancy Faeser (SPD): »Die Sicherheitslage ist angespannt.« Oberste Priorität habe sie und nur sie. Eine Spruchformel, monatelang wiederholt. Aber, konkrete Hinweise auf geplante Anschläge im Turnierverlauf gibt es: keine. Dennoch sei man für alles Fiktive gewappnet, der Einsatz »maximal«, so das Kabinettsmitglied der Ampel. Ferner würde die Bundespolizei an allen deutschen Grenzen, Flughäfen, Bahnstationen kontrollieren.

Koordiniert wird das alles im »International Police Cooperation Center« (IPCC) in Neuss in Nordrhein-Westfalen (NRW). Das sicherheitspolitische Lagezentrum ist die »Herzkammer« während der EM. Polizisten aus den Ländern, des Bundes sowie ausländische Kollegen, etwa aus Teilnehmer-, Anrainer- und Transitstaaten, verkehren dort. Ferner »Spezialisten« von Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und der Cybersicherheitsbehörde BSI. Ein Megaaufgebot der staatlichen Repressionsapparate.

EM-Spiele finden an zehn Standorten statt. Allein rund die Hälfte an vier im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW: Düsseldorf, Köln, Dortmund, Gelsenkirchen. »Gefühlt ist es eigentlich eine EM in NRW«, meinte der Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Michael Mertens. Nicht von ungefähr legt sich Herbert Reul (CDU) voll ins Zeug: »Sportliche Großveranstaltungen kennt die Polizei im Fußballland Nordrhein-Westfalen wie die eigene Westentasche«, so der Innenminister flapsig. Von Sicherheitskonzepten bis zur Kräfteverteilung. Die Planung für das Turnier habe schon vor vier Jahren begonnen. Zahlreiche Hundertschaften der Bereitschaftspolizei, Spezialeinsatzkommandos samt Hunderten Statisten inszenierten Großübungen vor und in Stadien. Action pur.

Bloß, wohin mit Delinquenten, Rüpeln in Fanklamotten? Wegstecken, ohne Komfort. Das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD) in NRW hat da was: metallene Sammelzellen. 15 an der Zahl. Überbleibsel von der »Sommermärchen-WM 2006«. Das reicht aber nicht. 16 weitere wurden angeschafft. Die sind mit den bestehenden kombinierbar. Wie praktisch. Mobile Miniknäste halt. Aus Skizzen der Beschaffungsbehörde LZPD gehen die Maße hervor: maximal 36 Quadratmeter, 2,20 Meter hoch, hatte dpa schon im August vergangenen Jahres berichtet. Die Module können auch zu kleineren Einheiten zusammengeschraubt werden, beispielsweise auf acht Quadratmeter. Eine intelligente modulare Gitterkonstruktion. »Die Beschaffung von mobilen Gefangenensammelzellen ist grundsätzlich zur Erhöhung der Gewahrsamskapazitäten für Einsätze in besonderen Lagen sowie auch im Hinblick auf die UEFA-Euro 2024 vorgesehen«, so eine Sprecherin des LZPD auf dpa-Anfrage.

In NRW und weiteren Bundesländern gibt es für Einsatzkräfte während der Zeit der EM ein weiteres Extra: extra Arbeitszeit. Oder, wie es heißt: eine vierwöchige Dienstfrei- und Urlaubssperre. Dadurch werde die Polizei »personell gut aufgestellt sein, um ein bestmögliches Sicherheitsniveau für die Bürger und Zuschauer zu gewährleisten«, so eine Sprecherin von Reul. Nun denn.

Pyromanen der UEFA

Lange vor dem EM-Start tingelte einer durch die Lande. Eine Art Reklamemann: Philipp Lahm. Der 113fache Kicker und Exkapitän der BRD-Elf (2004 bis 2014) ist EM-Turnierdirektor. Eine Rolle, zwei Nummern zu groß, unterstellen böswillige Beobachter. Weil: Er wirkt wie ein Pennäler, der nicht so recht weiß, wie das alles zusammenpasst: Satzbau, Mimik, Gestik. Wohl trotz Trockenübungen vor Spiegelwand und Linsenset. Lahm – Modell Meckifrisur, steingraues Jackett, mattweißes Hemd – will bei seinen Auftritten als Kleindarsteller eigentlich glänzen, holt auf öffentlichem Parkett weit aus. Etwa beim Podiumstalk zum Thema »Vielfalt vereint!?« in der Stuttgarter Liederhalle im November vergangenen Jahres. Die EM sei eine Topbühne, »um wieder mehr Zusammenhalt zu schüren – in Deutschland, aber auch in Europa«. Ups, Fauxpas, da hat er sich begrifflich vertan. Gleich zu Beginn. Man schürt Gewalt, gewiss keinen Zusammenhalt, Herr Lahm. Aufgefallen ist ihm das nicht, und es ist auch niemand unter der Stehtischkante, der souffliert. Passiert. Lahm haspelt sich weiter durch seinen Wortbeitrag, mittels Headsetmikro direkt ins Publikum, in den Livestream. Und ist ratzfatz beim Punkt »viele Herausforderungen«. Krieg in Nahost, Krieg in der Ukraine. Soweit kennt sich Außenverteidiger a. D. außenpolitisch aus. Nicht zuletzt biete das Turnier die Chance, »westliche Werte zu präsentieren«. Das sind? »Demokratie, Freiheit, Sicherheit und Gemeinschaft«. Die seien nämlich sehr wichtig. Und final möge das Großereignis EM dazu genutzt werden, »zusammenzukommen und ein Wir-Gefühl zu entfachen«.

Entfacht wird tatsächlich. Schon bei der Eröffnungsfeier, beim Auftaktmatch in der bajuwarischen Hauptstadtschüssel benannt nach einem Versicherungskonzern. Die Euro 2024 GmbH, an der DFB und UEFA beteiligt sind, will das so, eine fulminante pyronale Show mit 130 Fontänen, Fackeln, Rauchtöpfen. Dazu noch im Innenraum um den heiligen Rasen herum. Fulminant finden das die Branddirektoren im Münchner Kreisverwaltungsreferat nun gar nicht. Sie hatten an die UEFA-DFB-Partymacher appelliert, »keine Pyrotechnik zur Eröffnungsfeier einzusetzen«, berichtete am Freitag vor einer Woche Sportschau.de. »Es wurde insbesondere auf die Signalwirkung Richtung Fans verwiesen, deren nicht genehmigter Pyroeinsatz regelmäßig zu konkreten Gefährdungen und Verletzungen führt.« Aber, null Chance. Schließlich sei alles zertifiziert. Personal, Fabrikate. Außerdem wollten sich die Zeremonienmeister die Show nicht vermiesen lassen. »Der Einzug der Flaggen der teilnehmenden Nationen, kombiniert mit einer spektakulären Vorführung von Pyrotechnik wird in einem majestätischen Bild der Einheit und Vorfreude gipfeln«, heißt es schwülstig.

Aber wie ist das: Müssen Verbandsbosse dafür saftige Geldstrafen zahlen? Droht während der Fackelei ein Platzsturm der Einsatzkräfte? Findet das nächste UEFA-Event ohne Publikum statt? Berechtigte Fragen. Denn: Schmuggel und Abbrennen von »pyrotechnischen Erzeugnissen« gelten Klubs, Verbänden und Behörden als Verbrechen. Jedenfalls sonst. Entsprechend quittierte die Fanhilfe Magdeburg auf X den Meinungs- und Stimmungswechsel bei UEFA und DFB: »Doppelmoral« sei das, nichts anderes. Und: »Jedem Fan, der das im Stadion macht, drohen Tausende Euro Strafe und ein Stadionverbot. Unglaublich!«

Robocops in Stadien

Zum Vorlauf der EM gehört auch das, gewissermaßen als monatelanger Testlauf: Polizeigewalt. Einsatzkräfte provozieren, schikanieren, eskalieren. Vor dem Anpfiff, während des Spiels, nach dem Abpfiff. Spieltag für Spieltag. Kurzum, sie sind ein Sicherheitsrisiko. Allemal für Fans. Alles nur Gerede? Eine Art Verschwörungserzählung? Mitnichten. Es ist belegt. Der Dachverband der Fanhilfen veröffentlichte unlängst seinen Saisonbericht 2023/24. Darin dokumentieren die Fanhelfer 24 Fälle von Polizeigewalt rund um den Fußballsport in der zurückliegenden Spielzeit der ersten vier Ligen dieses Landes. Exemplarisch, akribisch, detailliert.

Im bundesweiten Dachverband haben sich rund zwei Dutzend lokale Fanhilfen organisiert. Über Vereinsgrenzen hinweg, ganz solidarisch. Dabei kooperieren die Fanhelfer mit Anwälten, begleiten Gerichtsprozesse und schaffen Öffentlichkeit. Längst sind sie zur kritischen Stimme geworden. Für Fanrechte, gegen Repression seitens der Vereine, Verbände und Behörden.

Zum Saisonreport: Fanhelfer berichten von Polizeikontrollen der Fanbusse, von Razzien in Zügen am Bahnhof, von Personalienfeststellungen und Rückführungen der Auswärtsfahrer. Oftmals willkürlich, oftmals überzogen. Zudem von polizeilichen Übergriffen im Stadionumfeld, beim Einlass, in Blöcken. Martialisch, beinahe paramilitärisch ist der Auftritt der sogenannten Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE). Eine Spezialtruppe, bei der Schlagstock und Pfefferspray besonders locker sitzen. Die Folge: verletzte, teils traumatisierte Zuschauer. Dutzendfach, hundertfach. Auch das ist belegt.

Etwa bei der Zweitligapartie von Hannover 96 beim FC St. Pauli im November 2023. BFE stürmten den »prallgefüllten Gästeblock, um sich anschließend unter wahllosem, massivem Einsatz von Reizgas Platz zu verschaffen«, wissen die Berichterstatter. Ohne Rücksicht auf Verluste. Anlass für den Einsatz seien Reibereien unter 96-Fans gewesen, die indes bereits intern geklärt waren. Ein ähnlicher Gewaltexzess nur zwei Wochen später in Liga eins. In Frankfurt am Main beim Spiel der Eintracht gegen den VfB Stuttgart. Eine Festnahmesituation vor der heimischen Nordwestkurve artete zum 30minütigen Scharmützel zwischen Polizisten und Ultras aus. Und beim Kick der Magdeburger bei Hertha BSC im Februar 2024 veranstaltete die Berliner Polizei Fanhelfern zufolge eine »Materialschlacht und Leistungsschau«. Neben »Szenekundigen Beamten« (SKB) schnüffelten selbst Spürhunde nach Bengalos und Rauchtöpfen beim Gästeanhang.

Vorfälle, die »einen dunklen Schatten auf das freie und selbstbestimmte Stadionerlebnis werfen«, betonte Linda Röttig, Vorstandsmitglied des Dachverbands. Die bunte und kreative Fankultur, die »für einen Großteil der Zuschauer den Besuch eines Fußballspiels erst so richtig lohnenswert macht«, würde dadurch gefährdet.

Davon wollen Behördenvertreter nichts wissen. Die eingesetzten Polizeikräfte handelten schlicht im Rahmen der gesetzlichen Befugnisse, meinte jüngst ein Sprecher des Polizeipräsidiums Bochum auf Nachfrage dieser Zeitung. Die BFE seien hierbei als spezialisierte geschlossene Einheiten tätig, und der Einsatz von Reizgas als Hilfsmittel der körperlichen Gewalt erfolge nach rechtlichen Vorgaben. Punktum.

Beschwichtigungen, sonst nichts, entgegnete Fananwalt René Lau gegenüber jW. Die Staatsmacht habe im Vorfeld der EM kräftig aufgerüstet. Und niemand solle ernsthaft glauben, »dass nach dem EM-Finale wieder abgerüstet wird«. Ist die »Tür für mehr Repression« auch nur einen Spaltbreit offen, werde sie von Hardlinern der Innenpolitik sperrangelweit aufgerissen, befürchtet Lau. Röttig ergänzte: »Selten zuvor gab es in einer Saison eine derart große Zahl von überzogenen Einsätzen der Polizei gegen Fußballfans.« Aber nicht nur die Anzahl, auch die vielfach erschreckende Brutalität, mit der Einheiten wahllos gegen Fans vorgegangen seien, stelle ein trauriges Novum dar. Dazu sei der Zusammenhang mit der bevorstehenden EM klar zu sehen. Die Polizei habe den Ligaalltag genutzt, »um nicht nur Fans ganz bewusst einzuschüchtern, sondern auch um Einsatztaktiken und gezielte Aktionen für das Turnier zu erproben«. Fußballfans würden somit zu Versuchskaninchen.

Die Fanhelfer dokumentieren nicht nur, sie kritisieren nicht nur – sie fordern. Auch gegenüber den Vereinen. Die müssten Farbe bekennen und sich zur Wehr setzen gegen die Repressionswelle gegen aktive Fans, sagte Röttig. Mit allen Mitteln. Das ist nicht alles. Die Fanhelfer verlangen Maßnahmen. Sofort. Welche? Diese: Eine Klarstellung seitens des DFB und der EM-Turnierleitung, »Terroristen und Fans nicht zu vermischen«, ein flächendeckendes Pfeffersprayverbot für die Polizei in Stadien und nicht zuletzt einen Runden Tisch »Polizeigewalt«. Und eh: Eine weitere Eskalation durch Polizeigewalt werde nicht kommentarlos hingenommen, versichern sie. Fans und Öffentlichkeit müssten sich dem entgegenstellen. Lautstark.

Die Arbeitsgemeinschaft Fananwälte sekundiert: »Wenn Philipp Lahm als Organisationschef des DFB davon spricht, dass mit der EM wieder vermehrt westliche Werte wie Freiheitsrechte vermittelt werden sollen, lässt dies viele Fans ratlos zurück.« Denn eingeschränkte Grundrechte erleben Fans seit langem. Bei der Meinungsfreiheit, bei der Freizügigkeit. Grundgesetzlich Garantiertes aus Artikel 5 und 11 ist nicht immer garantiert. Und wenn dann die Innenministerin Faeser Fans stets in einem Atemzug mit Terrorabwehr nenne, sei »sämtliche Verhältnismäßigkeit verloren«. Die AG Fananwälte nimmt politisch Verantwortliche in die Pflicht, versprochene Reformen im Umgang mit Fußballfans umzusetzen. Mehr noch, die EM dürfe keine Gelegenheit bieten für Rechtsverletzungen und Grundrechtseinschränkungen. Behörden müssten zu rechtsstaatlichem Handeln zurückkehren. Ohne Wenn und Aber.

Gefährder im Visier

Klingt gut, doch das Aber bleibt. Und kommt auf dem Postweg. Erfahren haben das Supporter von den dynamischen Rängen aus Sachsen. Absender war jüngst die Polizeidirektion Leipzig. Landesweit erhielten Fußballfans unzählige »Gefährderanschreiben«, teilte das Rechtshilfekollektiv Chemie Leipzig mit. Mehr als 200 sollen es gewesen sein. Unter anderem an Anhänger des Viertligisten, die BSG Chemie Leipzig. Die polizeilichen Direktoren aus der Schreibstube unterstellen demnach den vermeintlich »gewaltaffinen« Adressaten, sie würden anlässlich der EM ein »rechtswidriges Verhalten« planen. Solcherlei Schriftstücke sind seit Jahren »ein vermeintlich präventives Mittel, um potentiellen Störerinnen und Störern bei Großveranstaltungen zu signalisieren, dass die Exekutivbehörden sie ganz genau auf dem Kieker haben«, erklärt das Rechtshilfekollektiv aus Leutzsch.

Die »Trefferquote« der Überbringer der Schreiben sei oft gering bzw. »in Fachkreisen höchst umstritten«. Um so drastischer die Tonart des Mahnbriefs: »Sie werden aufgrund Ihres strafrechtlich relevanten Verhaltens im Zusammenhang mit vergleichbaren Veranstaltungen der gewalttätigen Fußballszene zugerechnet.« Diejenigen, die derartiges verfassen, seien wohl nicht ganz zurechnungsfähig, meinen hingegen Fanhelfer und ermunterten drei Chemiker, vor dem Verwaltungsgericht Leipzig zu klagen. Denn das Vorgehen der Polizei bedeutet einen erheblichen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Fans. Ein Vorgehen, das die Verwaltungsrichter als Vergehen einstufen mögen, so der Wunsch des Rechtshilfekollektivs. Ausgang offen.

Datensammler in Hochform

Wie kommen besagte Exekutivbehörden auf die angeschriebenen Missetäter? Ganz einfach. Dafür reicht ein Blick in eine Datenbank. In die allseits bekannte Datei »Gewalttäter Sport« (DGS). Das Problem: Bei Stadionverboten, Gefährderansprachen oder Ausreiseverboten wird gern auf veraltete Infos aus der Datei zurückgegriffen. Eine »datenschutzrechtliche Zumutung«, kritisierte Oliver Wiebe von der Fanhilfe Magdeburg gegenüber jW. Fehlende Speichervorgaben der Daten, keine Lösch- und Vorlagefristen. Wiebe: »Das kann nicht sein.« Dürfte aber so bleiben.

Die DGS wird seit 1994 geführt. Mitglieder der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren hatten deren Einführung beschlossen, um als gewaltbereit eingestufte Fußballanhänger zentral zu registrieren. Verwaltet wird sie von der »Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze« (ZIS), die beim Duisburger LZPD angesiedelt ist. Die ZIS gibt es seit 1992. Das Bundeskriminalamt (BKA) betreibt die DGS als sogenannte Verbunddatei – eine informationstechnische Dienstleistung für die Bundesländer. Das Datenmaterial liefern zumeist sammelwütige Beamte, die als »szenekundig« gelten.

Das Selbstbild der ZIS sieht so aus: »Ziel der ZIS sowie aller anderen beteiligten Polizeibehörden und Netzwerkpartner ist es, anlassbezogene Störungen bei Fußballspielen zu minimieren.« Jährlich bringt die ZIS einen Lagebericht auf der Basis der DGS heraus. Aufbau und Stil erinnern an Verfassungsschutzberichte. Viel ist dort von »Störerlage«, »Freiheitsentziehenden/-beschränkenden Maßnahmen« und »Tatorten« die Rede. »Drittortauseinandersetzungen«, eine amtliche Wortneuschöpfung für verabredete körperliche Auseinandersetzungen »erlebnisorientierter Fans« fernab der Stadien, werden gleichfalls statistisch verarbeitet.

Wie viele Datensätze sind in der DGS? Ende 2022 waren knapp 5.500 Fans in der Datei erfasst. So wenige wie niemals zuvor. Aktuell sind es nach Angaben der ZIS mit Stand 15. April ein paar mehr, 5.644 Personen. Bemerkenswert: Die Zahl der erfassten Personen in der DGS hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als halbiert, von knapp 13.000 auf rund 5.700. Ein Ergebnis des öffentlichen Drucks, unrechtmäßig Gespeicherte aus der DGS zu löschen, vermutet Sportpolitiker André Hahn von Die Linke im Bundestag. Um so mehr sei es »inakzeptabel«, die Datei im Kontext der Fußball-Euro – und darüber hinaus – zu nutzen. »Die DGS gehört abgeschafft.«

Was sagen die Ampelkoalitionäre? Die Datei werde »in Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit, Löschfristen, Transparenz und Datenschutz reformiert«, steht im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vom Spätherbst 2021. Seitdem sind mehr als zweieinhalb Jahre verstrichen. »Reformstau«, oder was? Schlimmer noch.

Die Projektgruppe des BMI-Unterausschusses »Führung, Einsatz und Kriminalitätsbekämpfung« werde den Polizeien des Bundes und der Länder anlässlich der EM 2024 in Deutschland »Empfehlungen zur DGS-Nutzung aussprechen«, hatte der parlamentarische Staatssekretär im BMI, Mahmut Özdemir (SPD), bereits im vergangenen September auf eine Anfrage von Linkspolitiker Hahn angekündigt. Und sowieso, die DGS sei 2010 durch das Bundesverwaltungsgericht »im Ergebnis für rechtmäßig befunden« worden.

Anfang Juni dann die Bestätigung. In der DGS sollen auch (möglicherweise) gewalttätige Fans aus dem Ausland gespeichert werden, berichtete Sportschau.de. Die Datenverwalterin ZIS dazu auf Anfrage: »Sofern die rechtlichen Voraussetzungen in den übersendenden Teilnehmerstaaten zur Übermittlung personenbezogener Daten potentieller Fußballstörer vorliegen, ist eine temporäre Nutzung dieser Störerdaten aus Anlass der UEFA EM 2024 in Deutschland durch die ZIS beabsichtigt.« Dabei werden übermittelte Daten innerhalb von 24 Stunden in die DGS eingepflegt. Das lasse befürchten, bemerkte Hahn, »dass Bundes- und Landesbehörden Rechtsstaatlichkeit und Datenschutz in den kommenden Wochen mit Verweis auf ihre Sicherheitskonzepte nur noch als nachrangig betrachten«. Zumal völlig unklar ist, wie Behörden von Teilnehmerländern »Störerdaten« ermitteln, erfassen und bewerten. Eines will das Bundeskabinett dann doch zusichern: Ausländische Verfolgungsbehörden hätten keinen Zugriff auf die DGS. Wäre ja auch ein weiteres datenschutzrechtliches Leck.

Summa summarum: Die Fußballeuropameisterschaft der Männer ist ein Spektakel innenpolitischer Hardliner und frenetischer Repressionsfans. Der Bundessheriff der berufsständischen Vereinigung »Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG)«, Rainer Wendt, hatte vor einem dreiviertel Jahr die Marschroute ausgegeben: »Auffällige Fußballchaoten müssen mit Präventivhaft rechnen.« Appelle und Sozialarbeit via Fanprojekte seien bei »Fußballkriminellen« nutzlos, sekundierte Wendts Korpskollege, der Hamburger DPolG-Vizechef Klemens Burzlaff. Aussagen als Drohungen. Oder: Fußball ist Begleitprogramm des Polizeifestspiels EM.

Oliver Rast ist jW-Redakteur im Ressort Wirtschaft, Arbeit, Soziales und Sportreporter.

Teil 1 der Serie »Staatsfeind Fan« erschien an dieser Stelle am 18. April 2024: Derby on Fire; Teil 2: Aufmarschort Arena am 2. Mai, Teil 3: Verbotszone Stadion am 29. Mai.

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