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Aus: Ausgabe vom 15.06.2024, Seite 2 / Inland
Palästina-Parolen

»Das Ministerium kann das nicht entscheiden«

Beschluss: Innenministerin kann »From the River to the Sea« nicht zum »Kennzeichen« der Hamas erklären. Ein Gespräch mit Benjamin Düsberg
Interview: Jamal Iqrith
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Welche Parolen erlaubt sind, obliegt nicht dem Innenministerium (Berlin, 4.11.2023)

Die Parole »From the River to the Sea, Palestine will be free« wird immer wieder bei palästinasolidarischen Demonstrationen gerufen. Die Behörden reagieren dabei unterschiedlich. Mal folgen Strafverfahren, mal passiert nichts. Vergangene Woche hat erstmals ein Landgericht über die Verwendung der Losung entschieden. Zu welchem Ergebnis kamen die Richter in Mannheim?

Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe hatte gegen einen Teilnehmer einer Nakba-Demonstration im Jahr 2023, der diese Parole verwendet haben soll, einen Strafbefehlsantrag gestellt. Den hatte das Amtsgericht Mannheim abgelehnt und sich dabei auf die Meinungsfreiheit bezogen. Dagegen legte dann die Staatsanwaltschaft Karlsruhe Beschwerde ein, welche in der vergangenen Woche vom Landgericht Mannheim mit einer ausführlichen Begründung zurückgewiesen wurde.

Wie argumentierte das Gericht?

Der Vorfall hat sich im Mai 2023 zugetragen, also vor der Verbotsverfügung durch das Innenministerium im November 2023. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Verfügung die Rechtslage im Hinblick auf die Verwendung des Slogans nicht geändert hat. Das Verbot des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen existierte ja bereits davor. Als die Verfügung erging, dachten plötzlich alle, es herrsche eine neue Rechtslage, weil das Innenministerium so tat, als sei die Parole per se ein Kennzeichen der Hamas. Der zentrale Punkt der Entscheidung aus Mannheim ist also, dass die Richter unmissverständlich festgestellt haben, dass die Parole trotz des Ministerialbeschlusses nicht einfach so als Kennzeichen der Hamas betrachtet werden kann. Welche Kennzeichen eine verbotene Organisation hat, haben nämlich Gerichte zu entscheiden und nicht das Innenministerium. In Mannheim wurde festgestellt, dass das bei der Parole nicht der Fall ist. Noch dazu handelt es sich um einen Satz, der verschiedene Interpretationen zulässt. In so einem Fall ist es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geboten, nicht ohne weiteres die zur Strafbarkeit führende Variante zu Grunde zu legen.

Ist die Verbotsverfügung des Ministeriums also nichtig?

Nein. Aber sie regelt eben nur, dass Samidoun und Hamas verbotene Vereine sind und dass die Betätigung für diese Vereine strafbar ist. Wie erwähnt kann das Ministerium aber nicht entscheiden, was Kennzeichen dieser Organisationen sind.

Das bedeutet, dieser Abschnitt der Verfügung hat schlicht keine Relevanz?

Die Behauptung, die Parole sei ein Kennzeichen der Hamas, ist laut dem Landgericht Mannheim nur die unverbindliche Meinung des Ministeriums. Der eigentliche Skandal ist, dass ausgebildete Juristen in Staatsanwaltschaften die Verbotsverfügung juristisch falsch interpretiert haben. Auf Grundlage dieser Interpretation wurden und werden Tausende Ermittlungsverfahren geführt. Das ist rechtswidrig, wie in Mannheim bestätigt wurde.

Kann eine höhere Instanz den Beschluss revidieren?

Nein, dagegen kann keine Beschwerde mehr eingelegt werden.

Hat die Entscheidung zur Folge, dass man den Slogan jetzt bundesweit auf Demonstrationen rufen kann, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen?

Das wäre schön. Aber es kann durchaus sein, dass Staatsanwaltschaften in anderen Bundesländern die Sache weiterhin anders sehen. Selbst in Baden-Württemberg, wo ja der Beschluss ergangen ist, könnten die Staatsanwaltschaften versuchen, andere Gerichtsentscheidungen zu erwirken. Das Landgericht ist noch nicht der Bundesgerichtshof. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sich die Auffassung aus Mannheim langfristig durchsetzen wird. Dass jetzt alle Verfahren auf einmal eingestellt werden, glaube ich nicht.

Rechtssicherheit gäbe es erst, wenn das Bundesverfassungsgericht urteilen würde, dass die Äußerung der Parole nicht strafbar ist?

Genau. Rechtssicherheit wird es erst geben, wenn die Obergerichte entscheiden. Falls tatsächlich mal jemand von einem Gericht wegen des Slogans verurteilt werden würde, würde es wohl auch bis zum Bundesverfassungsgericht gehen.

Benjamin Düsberg vertrat gemeinsam mit Rechtsanwalt Ahmed Abed im vorliegenden Fall die ­beschuldigte Person

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