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Aus: Ausgabe vom 15.06.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Regeln historischer Vergeltung

Karl Marx befasste sich 1857 mehrfach mit dem Aufstand indischer Soldaten und dessen brutaler Niederschlagung durch die britische Kolonialmacht
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Zeitgenössische Darstellung der Erstürmung Delhis durch britische Truppen 1857

Die von den revoltierenden Sepoys in Indien begangenen Gewalttätigkeiten sind in der Tat entsetzlich, scheußlich, unbeschreiblich – so, wie man sie nur in Insurrektionskriegen, in Kriegen von Völkerstämmen und Geschlechtern und vor allem in Religionskriegen anzutreffen erwartet, mit einem Wort, solche Gewalttätigkeiten, wie sie den Beifall des respektablen Englands zu finden pflegten, wenn sie von den Männern der Vendée an den »Blauen«, von den spanischen Guerillas an den ungläubigen Franzosen, von den Serben an ihren deutschen und ungarischen Nachbarn, von den Kroaten an den Wiener Aufständischen, von Çavaignacs Garde mobile oder von Bonapartes Dezemberleuten an den Söhnen und Töchtern des proletarischen Frankreichs verübt wurden.

Wie schändlich das Vorgehen der Sepoys auch immer sein mag, es ist nur in konzentrierter Form der Reflex von Englands eigenem Vorgehen in Indien nicht nur während der Gründung seines östlichen Reiches, sondern sogar während der letzten zehn Jahre einer lang bestehenden Herrschaft. Um diese Herrschaft zu charakterisieren, genügt die Feststellung, dass die Folter einen organischen Bestandteil ihrer Finanzpolitik bildete. In der Geschichte der Menschheit gibt es so etwas wie Vergeltung; und es ist eine Regel historischer Vergeltung, dass ihre Waffen nicht von den Bedrückten, sondern von den Bedrückern selbst geschmiedet werden.

Der erste Schlag, der gegen die französische Monarchie geführt wurde, ging vom Adel aus, nicht von den Bauern. Der indische Aufstand fängt nicht bei den Raiat an (den indischen Bauern), die von den Briten gequält, entehrt und ausgeplündert wurden, sondern bei den von ihnen eingekleideten, ernährten, verhätschelten, gemästeten und verwöhnten Sepoys.

Um Parallelen zu den Greueltaten der Sepoys zu finden, brauchen wir nicht, wie einige Londoner Blätter behaupten, ins Mittelalter zurückzugreifen, ja, nicht einmal über die Geschichte des zeitgenössischen Englands hinauszugehen. Wir brauchen nur den ersten chinesischen Krieg zu studieren, sozusagen ein Ereignis von gestern. Die englische Soldateska verübte damals Schandtaten zum bloßen Vergnügen; ihre Zügellosigkeit wurde weder durch religiösen Fanatismus geheiligt, noch durch Hass gegen anmaßende Eroberer gesteigert, noch durch den unnachgiebigen Widerstand eines heldenhaften Feindes erregt. Schändung von Frauen, Aufspießen von Kindern, Abbrennen ganzer Dörfer waren damals bloß zügellose Belustigungen, die nicht von den Mandarinen, sondern von britischen Offizieren selbst bezeugt wurden.

Sogar bei der jetzigen Katastrophe wäre es ein völliger Irrtum, anzunehmen, dass die ganze Grausamkeit auf Seiten der Sepoys läge und die ganze Milch der frommen Denkungsart bei den Engländern flösse. Die Briefe der britischen Offiziere sind voller Bosheit. (…)

Ein Beamter der Zivilverwaltung schreibt aus Allahabad: »Wir haben die Macht über Leben und Tod in unseren Händen, und wir versichern euch, dass wir sie schonungslos gebrauchen.« Ein anderer aus derselben Stadt: »Nicht ein Tag verstreicht, an dem wir nicht zehn bis fünfzehn von ihnen« (friedfertige Einwohner) »aufknüpfen.« Ein Beamter schreibt begeistert: »Holmes hängt sie zu Dutzenden, er ist ein Mordskerl.«

Und man sollte auch nicht vergessen, dass, während die Greueltaten der Engländer als Zeugnisse militärischer Kraft dargestellt und einfach und schnell erzählt werden, ohne bei abscheulichen Einzelheiten zu verweilen, die Gewalttätigkeiten der Eingeborenen, so entsetzlich sie sind, noch vorsätzlich aufgebauscht werden. (…) Ein Offizier aus Benares, dessen Brief in der Londoner Times abgedruckt ist, schreibt: »Die europäischen Truppen wurden zu Teufeln, wenn sie mit den Eingeborenen zusammenstießen.«

Karl Marx: Der indische Aufstand. In: New York Daily Tribune vom 16. September 1857. Hier zitiert nach: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), Band 12. Dietz-Verlag, Berlin 1974, Seiten 285–287

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