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Aus: Ausgabe vom 15.06.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Über die Kunst aufzuhören

Von Jan Decker
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1. Vor dem Kochen

Ich habe allerlei Zutaten wie Magerquark, Muskatnuss, Crème fraîche und glänzend schwarze Oliven auf dem Küchentisch aufgetürmt. »Gar nicht lange her«, denke ich, »und ich war frei.« Es war in jener kleinen Hafenstadt an der Ostsee, als mir von den Göttern eine Musenzeit geschenkt ward, in der ich keinen Strich mehr als nötig tun musste. Zum Beispiel sparte ich mir das Kochen und ließ mich statt dessen von Freunden und Bekannten durchfüttern. Wem schmeckt so etwas nicht?

2. Backen

Das Zubereiten von Speisen erscheint mir bis heute als eine Prozedur von hoher Zwanghaftigkeit, allein schon, weil man sich an ein Rezept halten muss. Ich gebe zu, dass ich mich immer noch lieber durchfüttern lasse. So vermische ich unwillig das Mehl mit dem Backpulver, und verknete beides zu einem Teig. Keine Frage, ich bin der Leibeigene meines Magens, der knurrt und mich weiterkneten lässt. Das wäre nicht ohne die passende Begleitmusik zu ertragen. Aber Vorsicht! Hier lauert für den Nichtkoch die erste Gefahr. Stellt er Musik an, um das Kochen zu begleiten? Oder kocht er, um Musik anzustellen? In diesen Nuancen liegt der Geschmack der Mahlzeit beschlossen. Da ich mich für das Anstellen der Musik entscheide, bleibe ich einige Zeit vor dem CD-Regal stehen. Keine Frage, welche Musik ich hören werde. Dennoch zögere ich. Mir ist klar, dass ich das Kochen bewusst verschleppe. In der kleinen Hafenstadt an der Ostsee hörte ich zum ersten Mal Rachmaninows zweites Klavierkonzert, auf einer Couch unter meinem Hochbett ausgestreckt, hinter schmalen Augenlidern träumend, inmitten von Decken und Kissen, bis mich irgend jemand zum Essen rief.

»Vergangene Zeiten«, sage ich mir, während ich den Teig zu zwei Rechtecken ausrolle, ein Ei trenne und die Teigplatten mit verquirltem Eiweiß bestreiche. Kochen erfordert eine unbedingte Gegenwärtigkeit. Nur keine Ablenkung! Will der Nichtkoch einmal Koch werden, muss er in den sauren Apfel beißen und bei der Sache bleiben. Da ist es wieder, das sanft wie eine Welle heranrollende Klaviermotiv, das mich beim Kochen innehalten lässt. Es war vorauszusehen, und es ist dennoch geschehen. Ich lasse die Teigplatten mit ihrem Eiweißkleid bekleckert liegen und gehe zum Buchregal. Was hat das noch mit dem Kochen zu tun? Alles und nichts, möchte ich philosophisch antworten. Hier stehen die Lyrikbände, zarte Blätterteigkompositionen, luftig in der Substanz, sättigend und schmackhaft dazu. Die Mahlzeit ist angerichtet, ich muss nur auf die Bibliotheksleiter steigen und mir ein Bändchen aus der akkurat angeordneten Reihe fischen. Ich entscheide mich für das weiße Bändchen, das mir in der kleinen Hafenstadt an der Ostsee zugeflogen ist. Ich bin verloren, weil ich nicht weiß, was aus meinen Olivenschnecken wird. Doch ich habe gleichzeitig gewonnen, denn ich habe die wahre Speise entdeckt, die ich wohlig zur Musik von Meister Rachmaninow einnehme: »Komm und nimm mir die Asche von den Beinen!«

Mit einem verächtlichen Schnauben kehre ich zur Fronarbeit zurück, die allein meinem knurrenden Magen gilt – der, rüpelhaft wie er ist, seine Rechte anmeldet –, an den Küchentisch also. Manchmal denke ich, dass ich meine »Kochunlust« therapieren muss. Aber was käme da noch alles zum Vorschein? Also stelle ich die Musik leiser und hangele mich stoisch durch das Rezept. Ich vermische die Crème fraîche mit einem weiteren Ei und Mandeln. Für einen kurzen Moment durchströmt mich ein heldenhaftes Gefühl. Meine »Kochunlust« ist so stark, dass ich von einer förmlichen Kochangst sprechen muss. Nach jedem Schritt im Rezept lege ich eine üppige Pause ein und belohne mich, auf der Couch liegend und im weißen Bändchen lesend, mit weiteren Takten aus Rachmaninows zweitem Klavierkonzert. Lilya Zilberstein wühlt sich voller Appetit durch die Klaviertastatur. Meister Rachmaninow hat ihr ein opulentes Mahl bereitet. Alles außer dem Kochen ist ein paradiesisches Experiment, denke ich. War es nicht so in der kleinen Hafenstadt an der Ostsee? Wir setzten die sozialutopischen Ideen von Charles Fourier in die Tat um, einem großen Nichtkoch und leidenschaftlichen Konfitürenascher, indem wir aus Lust an der Freude lebten. Wer zum Beispiel kochen wollte, der tat das. Und erstaunlicherweise hatten stets manche von uns Lust darauf. Ich lag auf der Couch und improvisierte auf der Gitarre. Nein, Hunger habe ich dort nicht ein einziges Mal gelitten.

Meine Freundin behauptet, ich habe ein gestörtes Verhältnis zum Kochen. Über den Zustand der »Kochunlust« ist sie sich niemals klar geworden. Wie selbstverständlich greift sie zu Bratpfanne und Öl, schnippelt Salate und knetet Teige. Ich sage ihr frei heraus, dass das nicht meine Welt ist. Schließlich würde ich auch nicht Tibetisch lernen oder zu Treffen von Modelleisenbahnfans pilgern. Doch sie lässt sich dadurch nicht beeindrucken. Für sie ist das Kochen eine Frage des Überlebens. Gerade hält sie sich auf einem Kongress in Übersee auf. Sie hat mir als Liebesgruß zehn Kochrezepte aufgeschrieben und in eine Klarsichtfolie gepackt. Fast widerwillig gucke ich mir das erste Rezept an. Olivenschnecken. Daneben hat sie mit dem Kugelschreiber ein Herz gemalt. Tatsächlich hat sie fast das ganze Rezept unterstrichen, soviel zu ihrem Vertrauen in meine Kochkünste.

Von ziemlicher Ungeduld gepackt, hacke ich die glänzend schwarzen Oliven und die grüne, unschuldige Petersilie mehr klein als fein, obwohl meine Freundin das Wort »fein« unterstrichen hat. Ich verknete alle bisherigen Zutaten zu einer uniformen Masse, eine Urmaterie von »Kochunlust«, die ich reichlich salze und pfeffere. Ich salze und pfeffere stets gern. Aber mir ist durchaus bewusst, dass ich damit nur den Geschmack der Ur­materie übertünche, ganz so, wie man sich am Hof des französischen Sonnenkönigs parfümierte, anstatt sich ordentlich zu waschen. Dass ich für mich allein koche, macht die Prozedur nicht erquicklicher. Würde ich für andere kochen, würde ich mich wenigstens zusammenreißen. So schiele ich erneut auf das weiße Lyrikbändchen, das neben den Mandelstiften liegt. Während Meister Fourier das Feiern für die einzig lohnenswerte Tätigkeit im Leben hielt, schweife ich in einsame »Kochunlust« ab. Wenn ich könnte, würde ich meinen Magen mit Büchern füttern. Und in gewisser Weise bringe ich ihm das seit Jahren bei. Ob meine Freundin ahnt, dass vor gar nicht langer Zeit meine Couch unter dem Hochbett eine Küche feiner und deftiger Gerichte war? Dass zu viele Köche überhaupt nicht, wie der Volksmund behauptet, den Brei verderben und dass der Strom der Leidenschaften die besten Gerichte zaubert? »Aber satt wird man von der Liebe nicht«, würde sie antworten.

Da beginnt der zweite Satz von Rachmaninows Klavierkonzert. Getragene Streicher erklingen, bis ein ganz und gar leichtes und hüpfendes Klaviermotiv einsetzt, eine Blätterteigkomposition, das ­exakte Gegenteil eines plumpen und unförmigen Tonbreis. Mein Magen, der Kleinbürger in mir, kommentiert das Klavierkonzert mit knurrender Ungeduld. Soll er doch. Ich lege Wert darauf, während des Kochens nicht gestört zu werden und Phantasiearbeit zu erledigen. Ich denke an das Café Ravic, unser Stammlokal in der kleinen Hafenstadt an der Ostsee, das keine Uhrzeiten kannte und jede Nacht die letzten Nachteulen aufsammelte. Es war so groß wie ein Handtuch, und doch passten alle hinein, die nach und nach kamen und mitfeierten. Ein viel bewundertes Rätsel. Und erst die Karte. Nur eine Handvoll Speiseangebote standen am unteren Ende eines kleinen laminierten Kartons. Sauerfleisch oder Bockwürste, die aber köstlich für die nächsten Gesprächsrunden stärkten. Auch Oliven gab es, in einer kleinen Schale gereicht, schnell und unkompliziert zubereitet. Ob ich meiner Freundin schon einmal vom Café Ravic erzählt habe?

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Ich rolle die Teigplatten, und schneide sie in fingerdicke Scheiben, »fingerdick«, das Wort hat meine Freundin unterstrichen. Lilya Zilberstein begleitet mich auf dem Klavier mit einer hypnotischen Spieluhrmelodie. Es geht auf das Finale zu. Das Einfache kann mehr sättigen als das Komplizierte, auch wenn es immer mit dem Dünkel des Kunstlosen behaftet ist. Ich könnte in dem weißen Bändchen weiterblättern. Doch ein plötzlicher Tusch des Orchesters hält mich davon ab. Statt dessen bestreiche ich die Scheiben mit verquirltem Eigelb und bestreue sie mit Mandelstiften. Ich bin bei der Sache, wie man so sagt. Ich forme die Scheiben zu Schnecken, die ich auf dem mit Backpapier versehenen Blech anordne. Mir wird klar, warum mir das Kochen keine Freude bereitet. Ich verausgabe mich an Nebenschauplätzen. Immer wieder rücke ich die Schnecken zurecht, bis sie im gleichmäßigen Abstand auf dem Backblech liegen. Noch einmal sammelt sich das ganze Orchester zu einer schwermütigen orientalischen Melodie, dann ist nur noch das gleichmäßige Summen des Backofens zu hören. Mit Rachmaninows zweitem Klavierkonzert sind die Olivenschnecken im vorgeheizten Backofen verschwunden. In die Stille dringt ein Magenknurren. Seit meine Freundin auf ihrem Kongress in Übersee ist, habe ich keine warme Mahlzeit zu mir genommen. Es ist der größte Kongress ihrer Forschungsrichtung, deshalb dauert er zehn Tage.

3. Auskühlen

»Die Stille«, denke ich, »eine verlässliche Begleiterin.« Auch sie ist ein Geräusch. Zeit und Stille, die großen Verführer. Aber da ist noch ein anderes Geräusch, das aus dem Rahmen der Kontemplation fällt. Alle zehn Sekunden knurrt mein Magen im Takt. Er erwartet die Mahlzeit, die sich im leise summenden Backofen ankündigt. Ich lenke mich mit den Meldungen des Tages im Internet ab, die so unergiebig wie das Kochen sind. Dann schlage ich mit eiserner Härte zurück. Ich gehe provozierend langsam zum Buchregal. Mein Magen, der Kettenhund, liegt geschlagen und schwach an der Kette.

Die Olivenschnecken liegen schwarz verbrannt und hässlich verformt auf dem Balkon. Sie dampfen aus, bevor sie zu Staub zerfallen werden. Ich stehe, das weiße Bändchen in der Hand, vor einem Rätsel. Wollte ich es nicht einfach nur schnell gegen ein anderes Lyrikbändchen austauschen? Dabei muss ich mich verlesen haben. Ich beginne mit dem Notfallprogramm. In Windeseile falle ich über den Kühlschrank her. Ich verdrücke eine komplette Mahlzeit. Salami und Tomaten, Salatblätter und Käsestücke, Fruchtjoghurt und Schokolade, rohe Milch und wieder Salami und Tomaten. Ich mache die Runde dreimal. Mein Magen gluckst fröhlich. Was für ein dummes Organ er ist! Immerhin kann ich weiterlesen. Ein Aufsatz von Wieland aus dem Jahr 1775. Da war ich stehengeblieben, als der Geruch von verbranntem Teig aus der Küche kam. »Die Kunst aufzuhören, zu fühlen, was genug ist, und nicht ein Wort mehr zu sagen, nicht einen Strich mehr zu thun, als nöthig ist, damit die abgezielte Wirkung erfolge – o meine jungen Freunde, ist für den Dichter wie für den Maler (und warum nicht für jeden Schriftsteller?) eine große und schwere Kunst!« Ich nicke begeistert. Wieland stellt meine misslungenen Olivenschnecken neben die Schale mit Oliven im Café Ravic und sagt vertrauensvoll: »Das wäre doch nicht nötig gewesen.« Das Verrühren von Quark, Öl und Salz, das Mischen und Verkneten von Mehl und Backpulver, das Ausrollen des Teigs zu zwei Rechtecken, das Bestreichen der Teigplatten mit verquirltem Eiweiß. »Du hättest dir auch einfach ein paar Oliven in eine Schale legen können.«

Da kommt meine Freundin. Ich höre ihren Rollkoffer und husche in Windeseile auf die Couch, um eine schlafende Haltung zu imitieren. Das ist meine einzige Chance. In wenigen Sekunden wird sie die Blamage riechen. Sie hat eine durchs Kochen geübte Nase, die ihr untrüglich verrät, was hier schiefgelaufen ist. Ab und zu gluckst mein Magen, dem ich wie einem Spielkameraden zuflüstere, dass er endlich ruhig sein soll. So überlasse ich mich meinem Schicksal. In Gedanken liege ich auf derselben Couch, zwischen Decken und Kissen eingegraben, nicht hier, sondern in der kleinen Hafenstadt an der Ostsee, drei blonde Engel in meinen Armen, die mich bekochen, und dann zärtlich verwöhnen, während ich ihnen Zitate von Meister Fourier zum besten gebe.

Ich sage meiner Freundin, dass ich aufhören will. Aufhören ist nicht einfach, sondern eine Kunst für sich. Aufhören mit dem Kochen will ich. Was sonst? Ob ich mit dem Kochen überhaupt angefangen hätte, fragt sie mich. Welche spitzfindigen Worte sie gebraucht! Dann hält sie mir die zu Ruß erstarrten Olivenschnecken unter die Nase. Sie fragt mich, was ich mir dabei gedacht hätte. »Einen Beweis führen«, antworte ich ihr. Wie ein Wissenschaftler auf ihrem Kongress. Die Olivenschnecken sind mein empirisches Material. »Ja«, sage ich. »Sie beweisen in aller Deutlichkeit, dass ich ein geborener Nichtkoch bin.«

Schließlich versöhnen wir uns. Sie kocht mir in atemberaubender Geschwindigkeit mein Lieblingsgericht, Spaghetti Bolognese. Sie selbst hat keinen Hunger. Seit Jahren habe ich mich nicht mehr so frei gefühlt. Ich beschließe, ihr eines Tages ein »Souper spectaculaire« zu kochen, ein gewaltiges Festmahl, das Meister Fourier als Auftakt eines glänzenden Festes sehen würde, mit anschließendem Ball, dem Auftritt von Feuerschluckern, Zwergen und Elefanten, ein Festmahl, bei dem die Olivenschnecken nur ein Gang unter vielen wären. Oder vielleicht auch nur Oliven, in einer Schale gereicht, als appetitliche Zutat. Ich stelle ihr gern ein opulentes Festprogramm zusammen. Es kostet mich keine Mühe. Ich kann gleich damit beginnen.

Jan Decker, Jahrgang 1977, lebt und arbeitet als Schriftsteller, ­Essayist und Literaturwissenschaftler in Wien. Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle am 27./28. April 2024 »Flucht aus Breslau«

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