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Aus: Ausgabe vom 17.06.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Sein Name war Nobody

Erst wählte er seine Rollen, dann wählten sie ihn: Kiev Stingls poetisches Vermächtnis
Von Daniel Dubbe
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»Mein Ziel ist es, Verwirrung zu stiften und dann unterzutauchen …« – Kiev Stingl

Kiev Stingl hat kurz vor seinem Hinscheiden aus seinen verstreuten, unveröffentlichten Schriften Bruchstücke einer intimen Konfession zusammengestellt, die uns zeigen, wie er sich und die Welt sah, was er als Poet so draufhatte und was ihn tief bedrückte. »Ausgestoßen ohne Gerichtsurteil, in die Wüste verwiesen, streicht er wie ein Dieb durch seine Stadt. Er, einst ein Engel, dessen Strahlen die Neider anlockten, nun seines Himmels, der Erde, beraubt, ans Unsichtbare gekettet. Dennoch wird er nicht müde, jede Nacht Töne wie Peitschenhiebe in die schlafende Stadt zu brüllen. Was sonst?«

Ja, was sonst? Kiev Stingl hat praktisch immer geschrieben. Sein veröffentlichtes Werk ist im Verhältnis dazu schmal. Zwischen 1995 und 2021, also zwischen seinem 52. und seinem 78. Lebensjahr erschien gar nichts. Ein Vierteljahrhundert lang schwieg er, wie man so schön sagt. Seinem Mythos tat das keinen Abbruch. Fast möchte man sagen: im Gegenteil. Wertsteigerung durch Verknappung? Vielleicht.

Dabei war die Sache eigentlich ganz anders geplant, wie er schon 1979 auf dem Cover seines poetischen Erstlings »Flacker in der Pfote« verriet: »Dies ist die innerste Zicke des Buches: Wondratschek zu schlagen – in der Auflage.« Die Auflage eines einzelnen Gedichtbands Wolf Wondratscheks lag damals bei über 100.000 Exemplaren. Stingls Ansinnen also blanke Ironie. Vor allem aber auffällig, und darum ging es.

Als Dichter hatte er früh erkannt, dass es ratsam war, zu singen und zu komponieren. Die erste LP hieß »Teuflisch« (1975), das nachfolgende Meisterwerk »Hart wie Mozart« (1979). Fünf oder zehn solcher Alben auf diesem Niveau und Kiev Stingl wäre irgendwo zwischen Jim Morrison und Falco eingeordnet worden.

Aber leider wollte/konnte Stingl nicht ins Geschäftsleben einsteigen. Er hatte ganz entschieden etwas gegen volle Terminkalender. Stingl war kein Teamworker. Stingl war nicht zielstrebig. Stingl war unzuverlässig. Oder wie er sich selbst bedichtete: »Stingl ist ein Nobody auf Durchreise.«

Kiev Stingl 2017_Foto Alexandra Beilharz.jpg
Kiev Stingl 2017 in seiner Berliner Arbeitsbibliothek

Die meisten jetzt gedruckten Gedankensplitter in diesem Perlencollier verstreuter Einfälle sind mit Ortsangaben und Daten versehen. Sie entstanden etwa zwischen 1994 und 2010. Sein allgemeineres poetisches Programm hat er einmal so beschrieben: »Es ist für mich nicht reizvoll, Geschichten zu konstruieren, halb erfundene, halb gefundene. Ich will lieber allgemein schwadronieren und Bilder in die Welt werfen. Mein Ziel ist es, Verwirrung zu stiften und dann unterzutauchen …« Das Publikum lauschte gebannt einer geheimnisvoll betörenden Suada, von der es nur Teile begriff. Solche Texte finden sich im fast gleichzeitig mit dem »Collier« veröffentlichten Bändchen »Idee piratisch«, geschrieben 1991 zu Zeiten von Stingls zahlreichen mysteriösen Auftritten in Ost- und Westberlin.

Jetzt aber redet Kiev Klartext. Aus der Masse seiner Einfälle hat er die amüsantesten, aufrichtigsten und extremsten Selbstbekenntnisse herausgesucht: »Zum Überlegenheitsgefühl drängt all mein Wollen. Und Tun. Mißlingt der Triumph, bleibt Streitlust pur in mir zurück: Ein nunmehr zielloses Lodern verbrennt mich.« Oder das hier: »Er wollte roh sein wie ein Barbar. Er wollte alle Tabous der Welt brechen und wie ein Kind schreien: – Ich bin ein Tyrann, und nur das ist die Freiheit!«

Das gefiel nicht allen. Die Regelverstöße, die freche Negation von Konventionen, wie er sie betrieb, führten ins Abseits. Das wusste er natürlich. Aber er machte weiter. Er konnte nicht anders. Er war zweifelsohne unkonventionell. Ein Widerspruchsgeist. Ein Strolch. Poète maudit mit Flacker in der Pfote. Erst wählte er seine Rollen, dann wählten sie ihn. Von manchen, unheilvollen kam er nicht wieder los.

Ein Foto in diesem gelungenen Band zeigt den streitlüsternen Kiev, Hände in den Hosentaschen, Augen schmal wie Schießscharten, vor seiner Bücherwand, die nicht bürgerlich wirkt, sondern wie ein Munitionslager. Hinten im Buch ein weiteres Foto, ein Stillleben: ein Tisch im Süden mit aufgeschlagenem Buch, Brille, Stift und Telefon. Aus dem Schwarzweißbild spürt man den Stillstand in der lähmenden Mittagshitze des Südens. Den Sommer verbrachte Kiev gern auf der ägäischen Insel Milos: »Wo, wenn nicht auf der Insel der Venus könnte das Exil für einen lustvoll gescheiterten Romantiker sein?«

Sein Hauptwerk »Der Wille nach unten«, von ihm selbst unbenannt in »Verführt«, harrt noch der Veröffentlichung. »Mein Collier um Deinen Hals« gibt einen willkommenen Vorgeschmack darauf. Keine Alltagskost. Verblüffend aufrichtig und bestens geeignet als Mitbringsel für Leute mit einer poetischen Ader, die das Ungewöhnliche lieben.

Kiev Stingl: Mein Collier um Deinen Hals. Gedankensplitter. Flur-Verlag, Heidelberg 2024, 63 Seiten, 12 Euro

Kiev Stingl: Idee piratisch. Prosapoem. Moloko-Print, Schönebeck/Elbe 2024, 43 Seiten, 15 Euro

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