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Aus: Ausgabe vom 17.06.2024, Seite 11 / Feuilleton
Musik

Mehr als nur Hammerschläge

Schlüssig und genau: Die Berliner Philharmoniker unter Gustavo Dudamel spielten in der vergangenen Woche Gustav Mahlers sechste Sinfonie
Von Kai Köhler
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Gemeinsame Bewegung wird um so schwieriger, je größer der Apparat ist: Gustavo Dudamel und die Berliner Philharmoniker

Zweimal fällt der Hammer. »Kurzer, mächtig, aber dumpf hallender Schlag von nicht metallischem Charakter (wie ein Axthieb)«, so wünschte Mahler sich das. Da liegt es nahe, von Schicksalsschlägen zu reden, die einen Helden zertrümmern, oder gar, das Werk biographisch zu hören – gleichsam als Vorwegnahme der Unglücksfälle, die Mahler bald nach Beendigung der Komposition trafen.

Freilich stehen die Hammerschläge nicht am Ende der Sinfonie, sondern sind in der Durchführung des Finalsatzes verteilt. Der endgültige Zusammenbruch kommt ohne sie aus. In den Vordergrund drängt sich vielmehr gegen Schluss ein Paukenmotiv, das bereits im ersten Satz vorkam und dort die Basis von zwei Akkorden darstellte: der erste in strahlendem Dur, der zweite abgeblendet in Moll. Dies nahm das Ende sehr früh schon vorweg. Der Paukenrhythmus durchwuchert im Finale die immer noch energischen Vorwärtsbewegungen. Und wenn Mahlers sechste Sinfonie auch als die »Tragische« bekannt ist, dann nicht, weil etwas von außen kommt und Unglück bringt. Vielmehr ist der Untergang im Verlauf selbst angelegt. Solange noch Kraft vorhanden ist, kann auch der Hammer nur für Momente eine Krise auslösen. Ist hingegen der Impuls zum Vorwärts schon angefressen, gelingt der befreiende Durchbruch sogar dann nicht, wenn der Hammer stillhält.

Dies berührt auch Fragen der musikalischen Interpretation. Es gilt, Bewegungstypen zu verdeutlichen. Und dies ist in diesem Fall besonders schwierig. Nicht nur hat Mahler hier die – nächst der achten Sinfonie – größte Besetzung vorgeschrieben, die er, ohnehin kaum je bescheiden, jemals gewählt hat – und gemeinsame Bewegung wird um so schwieriger, je größer der Apparat ist –, auch hat er wirkliche Polyphonie komponiert.

Die vielen unterschiedlich geführten Stimmen dienen weniger der Klangballung als einem konflikthaften Gegeneinander, das die Grundlage von Entwicklung ist. Für die Musiker heißt das, dass sie unterschiedlich Dynamisches und Stauendes zugleich vermitteln müssen.

Hier nun lag eine außerordentliche Stärke der Aufführung, und die Berliner Philharmoniker spielten unter ihrem Dirigenten Gustavo Dudamel genau, ohne in leblose Exaktheit zu verfallen; sie verdeutlichten den Widerstreit von Vorwärtsbewegung und Stockung. Dabei klangen die Phrasierungen wie spontan gefunden. Dazu trugen Dudamels Tempi bei, die – bei einer Gesamtspielzeit im Rahmen des Üblichen – im Einzelnen sehr flexibel waren.

So nahm Dudamel die Marschepisoden des ersten Satzes sehr schnell und vermittelte so ihre ganze Brutalität. Ebenfalls rasch brachte er die meisten Passagen des Scherzos, einer Reihe von Tänzen, die manchmal harmlos daherkommen, die zuweilen grob dreinfahren, die auch gespensterhaft ängstigen können: Auf nichts kann man sich verlassen in der Welt dieses Abschnitts. Da haben scharfe Tempokontraste ihren Sinn. In der Gesamtkonzeption schlüssig war auch, dass sich Dudamel für das Finale Zeit ließ und damit der Schlussteil des Werks jenes Gewicht erhielt, das ihm gegenüber den ersten drei Sätzen zukommt

Sentimentalität ist in der Welt von Mahlers sechster fehl am Platz, und so ist nachvollziehbar, dass Dudamel sowohl die große ruhige Episode im Zentrum des ersten Satzes als auch große Teile des dritten Satzes etwas trocken spielen ließ. Hier könnte man das einzige Bedenken gegen eine sonst außerordentlich gelungene Aufführung formulieren. Es betrifft die Dramaturgie des Ganzen. In gut achtzig Minuten Anspannung braucht es Ruhepunkte; und eine Katastrophe wirkt um so zerstörerischer, je eindringlicher zuvor die Hoffnung auf ein anderes hörbar geworden ist.

Musiker können versuchen, bei all dem Schrecken klangschön zu bleiben. Es gibt Einspielungen und Aufführungen hochrangiger Orchester, die diese technisch anspruchsvolle Sinfonie als Visitenkarte ihrer Virtuosität abliefern. Die Berliner Philharmoniker dagegen wagten das hässliche Detail. Auch dieses, vielleicht besonders dieses, erfordert Können. Doch verhindert es bloß kulinarisches Genießen. Gefahr ist dabei allerdings, dass sich die Wahrnehmung des einzelnen vor das Verständnis des Ganzen schiebt: der grobe Paukenschlag als solcher, das gespenstische col ­legno … Dies alles war hörbar, gab besonders dem Scherzo sein Gewicht. Dabei gelang es stets, den Effekt im Zusammenhang mit der Bewegung zu zeigen, mit jenem Elan, der zuletzt und gerade bei größter Kraftentfaltung zerbröckelt. Das hörbar gemacht zu haben, war die Qualität des Konzerts am 13. Juni.

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