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Aus: Ausgabe vom 18.06.2024, Seite 12 / Thema
Frankreich

Patriotischer Protektionismus

Die Nationalisten schicken sich an, die Macht in Frankreich zu übernehmen. Eine kurze Geschichte der Le-Pen-Partei
Von Stefan Ripplinger
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Gilt seitdem in der liberalen Presse Frankreichs für wählbar: Marine Le Pen und, rechts neben ihr stehend, der Vorsitzende des Rassemblement National, Jordan Bardella, bei einer Demonstration gegen Antisemitismus (Paris, 12.11.2023)

Lässt sich ein modernes Land im 21. Jahrhundert noch nationalistisch regieren? Die Frage wird bald beantwortet werden. Nach ihrem großen Sieg bei der EU-Wahl könnte Marine Le Pen, die Anführerin des Rassemblement National (Nationale Sammlung, RN), bereits im Juli, nach Neuwahlen, die Macht in der französischen Nationalversammlung übernehmen. Und falls ihr das misslingen sollte, wird sie eben, turnusgemäß, 2027 Präsidentin. In den USA wartet Donald Trump derweil auf seine zweite Amtszeit.

Wer nach dem Nationalismus fragt, sollte ihn nicht auf Autoritarismus verengen. Denn ob sich noch heute autoritär regieren lässt, ist längst beantwortet – von China, vom Iran, von Ungarn, von Israel und, denken wir an die Unterdrückung der »Gelbwesten«-Proteste, von Frankreich selbst. Auch in Deutschland haben wir gerade in letzter Zeit autoritäre Vorstöße erdulden müssen. Also ist autoritäres Regieren selbst auf diesem gesellschaftlichen Niveau noch möglich. Auch bestens informierte Bürgerinnen und Bürger sind staatlichen Repressionen schutzlos ausgeliefert, sobald sich Widerstand nicht mehr organisieren lässt.

Die Frage danach, ob Nationalismus zeitgemäß ist, sollte also umformuliert werden: Ist Protektionismus in einer globalisierten Wirtschaft noch praktikabel? Denn bei näherem Hinsehen liegt der Kern von Le Pens (und Donald Trumps) Nationalismus im Protektionismus. Sein Protektionismus unterscheidet diesen Nationalismus von vielen andern autoritären Regierungsformen, so vom Faschismus, der, wie wir von Nicos Poulantzas wissen, stets eine imperialistische Komponente hat. Insofern gibt das Großbritannien nach dem »Brexit« eher Aufschluss über die französische oder US-amerikanische Zukunft als eine beliebige Diktatur.

Für und gegen freien Markt

Protektionismus war das Programm schon von Jean-Marie Le Pens Front National (Nationale Front, FN), wie die Partei bis 2018 hieß. Marine Le Pens Vater pflegte zwar eine derbere Rhetorik, aber verfolgte bereits die in sich widersprüchliche Politik eines nationalen Neoliberalismus. Ronald Reagans Modell wollte der alte Le Pen um Jahre vorweggenommen haben. Doch sollte bei ihm die von Reagan (und Margaret Thatcher) empfohlene rücksichtslose Deregulierung ihre Grenze stets an der Nation finden. Das zeigte sich, nachdem Anfang der 1990er trotz guter Konjunktur die Arbeitslosigkeit über die Zehnprozentmarke gestiegen war. Zwar erzielte Frankreich in jener Zeit, anders als davor und danach, einen Außenhandelsüberschuss. Dennoch verkündeten die Lepenisten nun, dass der freie Markt frei nur im Lande selbst sein dürfe.

Bruno Mégret, der bis 1998, als er sich mit dem Chef überwarf, Generalsekretär der Partei war, erläuterte im National-Hebdo (14.10.1993): »Der neue Protektionismus, den wir begrüßen, zielt darauf ab, unseren Binnenmarkt zu schützen – gerade so, wie es die Amerikaner und die Japaner tun –, ohne deshalb mit dem Exportieren aufzuhören.« Nun wollten die Nationalisten im freien Markt, sofern er von ausländischen Mächten dominiert schien, sogar eine existentielle Bedrohung erkennen. Jean-Claude Martinez, Vizepräsident des FN von 1985 bis 2008, unterstellte, eine »Symbolfigur« des vereinigten Europa, der Unternehmer Jean Monnet, sei eine »Marionette der Amerikaner« gewesen, »die uns seit 1939 von unseren Kolonien vertreiben und das französische Imperium zerschlagen wollen« (National-Hebdo, 26.5.1994).

Allein schon diese Polemik belegt, dass der von Liberalen wieder und wieder unternommene Versuch, der Le-Pen-Partei etwas Linkes zuzuschreiben (um der Linken im Umkehrschluss etwas Reaktionäres anhängen zu können), haltlos ist. Es stimmt zwar, dass die Lepenisten euroskeptisch waren und sind, zeitweise schlugen sie auch, wie gesehen, schrille antiamerikanische Töne an, aber dies gerade nicht aus internationalistischen, sondern aus nationalistischen, nicht aus antikapitalistischen, sondern aus kapitalistischen Motiven.

Auch die beliebte Behauptung, die Le-Pen-Partei sei »populistisch«, trifft nicht oder höchstens mit Einschränkungen zu – FN und RN waren von Anfang an und sind im Kern noch immer eine Klientelpartei, die über Jahrzehnte hinweg den Interessen einer bestimmten Gruppe diente: dem nationalen Kapital, insbesondere den französischen Kleinunternehmern, darüber hinaus allen, die in Diensten dieser heimischen Unternehmen stehen, also dem über ein wenig Eigentum (ein Häuschen) verfügenden Kleinbürgertum, ab den 1990er Jahren auch den sich verkleinbürgerlichenden Arbeitern. Dass mit der Unterstützung dieses Teils der Bevölkerung allein noch nicht die Präsidentschaft zu erlangen ist, versteht sich. Marine Le Pen hat deshalb um Stimmen jenseits dieser Klientel gebuhlt, aber – und das ist entscheidend – ohne jemals deren Interessen zu verletzen. Aus ihren Reihen kamen von jeher die Finanziers der Partei.

Sebastian Chwala weist in dem sehr empfehlenswerten Buch »Der Front National« (2015) darauf hin, dass Jacques Doriots faschistische Parti Populaire Française zwar als Arbeiterpartei galt, tatsächlich aber vom Kapital finanziert worden sei: Die unedlen Spender kamen sowohl von lokalen Firmen als auch aus der Schwerindustrie und dem Finanzsektor.

Und so ging es bei vielen rechten Parteien nach dem Krieg weiter. Das Parteivermögen des Front National beispielsweise stammt aus dem Erbe des Zementfabrikanten Hubert Lambert. Weil sich andere Erben benachteiligt fühlten, wurde 1976 ein Sprengstoffanschlag auf das Haus von Le Pen verübt, bei dem glücklicherweise niemand zu Schaden kam. Gern wurde von Familie und Partei die Legende gestreut, der Anschlag hätte politische Motive gehabt. Nebenbei sei notiert, dass Éric Ciotti, der in der letzten Woche die gaullistische Partei Les Républicains (Die Republikaner) ins Le-Pen-Lager putschen wollte, nicht im Alleingang, sondern, ganz offen, im Zusammenspiel mit dem bretonischen Milliardär Vincent Bolloré handelte. (Le Monde, 14.6.)

Für Unternehmer, gegen Einwanderer

Weil nun aber die rechten Parteien von Unternehmern gedeckt und ihnen zu Diensten waren, entwickelte sich in den antikommunistischen 1950er Jahren die eigenartige Kippfigur, die wir noch heute überall auf der Welt – bei uns bei der Alternative für Deutschland (AfD) – sehen: die rechte Partei, die zugleich ein kapitalistisches und ein völkisches Gesicht hat.

Dass diese beiden Gesichter zusammenpassen können, aber nicht müssen, erwies sich bereits an einem direkten Vorläufer des Front National, der 1955 von Pierre Poujade gegründeten UDCA (Union zur Verteidigung der Händler und Handwerker), zu deren Abgeordneten Jean-Marie Le Pen gehörte. Poujade wollte Widerstand gegen »die Steuer-Gestapo« leisten, vertrat also ein radikal wirtschaftsliberales Programm, scharte aber auch alte Kollaborateure und Kolonialisten hinter sich. Letztere forderten bald höhere Staatsausgaben für Militäreinsätze, was sich mit einer Politik nicht vereinbaren ließ, die krampfhaft auf die Schuldenbremse tritt. Mit Poujade überwarf sich Le Pen über der Frage eines Engagements für ein französisches Algerien und rief sodann wenig erfolgreiche prokolonialistische Gruppierungen ins Leben.

Mit der Gründung des Front National im Jahr 1972 kehrte der Umtriebige zu einem poujadistischen Profil zurück: Kleinunternehmer, kleine Gewerbetreibende, Kleinbürger machten die Substanz der Partei aus, hinter ihnen konnten sich große Antisemiten, Rechtskatholiken und ähnliches Gelichter sammeln. Also stand man einerseits für Steuersenkungen und förderte die Handwerker und Betriebe nach Kräften, andererseits hielt man die alte Kolonialpolitik hoch und verteidigte das Vichy-Regime. Nationalstolz und Fremdenhass sollten beide Milieus zusammenschweißen. Auch wenn es bisweilen knallt, werden sie miteinander gemischt (das bewies der Streit zwischen Mégret und Le Pen), verbinden sich Liberalismus und Faschismus doch ganz harmonisch im Sozialdarwinismus. Reinhard Kühnl (»Formen bürgerlicher Herrschaft«, 1971) fasst dessen Doktrin zusammen: »Im Kampf ums Dasein setze sich der Stärkere eben durch, und der Schwächere bleibe mit gutem Grund auf der Strecke. Das entspreche nicht nur dem Willen der Natur, sondern diene auch der Auslese der Besten und insofern auch dem Wohl der Gemeinschaft.«

Ganz in diesem Sinne formulierte Vater Le Pen programmatisch (in: Jean-Pierre Apparu [Hg.]: »La droite aujourd’hui«, 1979): »Wenn die Schwachen von allzu vielen auf sämtlichen Gebieten gefördert werden, wird dadurch der Körper der Gesellschaft ganz allgemein geschwächt. Man handelt dann genau andersherum als die Hunde- und Pferdezüchter. Ich bin gar nicht dagegen, dass man Unglück lindert und beispielsweise den Behinderten hilft, aber heutzutage ist es fast so, als wollte man die Behinderten begünstigen.« Le Pens Partei steht hinter denen, die sich mit Härte und Beharrlichkeit ihren Weg bahnen, hinter alten Kämpfern und jungen Unternehmern. Sie steht auch hinter einer Nation, die im Großen das verkörpern und verteidigen soll, was die Kleinen erstreben. Seltsam ist dabei nur, dass diejenigen, die so viril auftrumpfen, sich fortwährend ins Hemd machen. In der Vision der Lepenisten steht Frankreich immer kurz vorm Untergang. Mal scheint die Nation vom Geburtenrückgang, mal von der Einwanderung bedroht, aber im Grunde gibt es nur einen einzigen Gegner, und es ist nicht einmal ein eingebildeter: die Globalisierung.

Alle teils irren Phantasmen, die die Partei um die Globalisierung rankt, haben also einen realen Grund: Das nationale Kapital, das die Partei stützt und im Innersten ausmacht, fürchtet, im internationalen Wettbewerb nicht bestehen zu können und beiseitegefegt zu werden.

Gegen die Juden, für Israel

Der Erfolg der Nationalisten erklärt sich daraus, dass es ihnen gelungen ist, den Konkurrenzdruck von Unternehmern zum Schrecken aller zu machen. Paradox daran ist, dass dieselbe neoliberale Politik, die die Partei von jeher unterstützt hat, auch denen Angst einjagt, die von der Globalisierung bloß indirekt oder gar nicht betroffen sind. Ja, in deregulierten Verhältnissen fürchten sich nun auch diejenigen vor dem sozialen Abstieg, die objektiv keinen Anlass dazu hätten. Sie lassen sich einreden, dass ihre unsicher gewordene Stellung von Ausländern, entweder von »Heuschrecken« oder von Migranten, bedroht sei. Nicht nur ist für 91 Prozent der Le-Pen-Wähler die Globalisierung das wichtigste Thema, es fürchten sich 60 Prozent der Französinnen und Franzosen vor der Obdachlosigkeit, obwohl tatsächlich weit weniger als ein Prozent obdachlos ist.

Wie Chwala in »Frankreichs radikale Rechte« (2022) feststellt, wird die neoliberale Politik von der unteren Mittelschicht selten als wahre Ursache solcher Verunsicherung erkannt. Kleine Hausbesitzer leiden unter dem doppelten Druck von Zinszahlungen und Steuern, Beschäftigte kleiner und mittlerer Unternehmen machen sich Sorgen darüber, ob der Staat mit Unternehmenssteuern »die Existenz des eigenen Arbeitsplatzes bedrohen könnte«. Angeleitet von der Rechten und den Medien, projizieren viele ihre Abstiegsängste und ihre Unsicherheit auf Staat, Europäische Union und gefährliche Fremde.

Niemand hat der Le-Pen-Partei so sehr geholfen wie der Präsident Nicolas Sarkozy mit seiner Rede von Grenoble am 30. Juli 2010, in der er wie ein französischer Olaf Scholz Einwanderung und Kriminalität miteinander verschmolz. Nachdem Polizisten einen jugendlichen Rom getötet hatten, war es zu Ausschreitungen gekommen. Der Präsident veranlasste die Abschiebung von 1.230 Roma nach Rumänien und Bulgarien, also in Länder der Union, was dem EU-Recht spottete. Präsident Emmanuel Macron folgte diesem xenophoben Kurs; nicht umsonst wurde sein Einwanderungsgesetz im Dezember 2023 mit den Stimmen des Rassemblement angenommen. Es verstellt selbst Ausländern aus anderen europäischen Staaten den Zugang zum Sozialsystem und erschwert es auch arbeitenden Migranten, ihr Bleiberecht zu verlängern.

Erstaunlicherweise zeigen Umfragen, dass in Frankreich die Ressentiments gegen Minderheiten im Schwinden begriffen sind. Mit einer fanatisch fremdenfeindlichen und sexistischen Agenda, wie sie etwa Éric Zemmour vertritt, sind keine Mehrheiten zu gewinnen; Zemmours Partei Reconquête! (Rückeroberung/Reconquista) holte bei der EU-Wahl gerade mal 5,5 Prozent. Erfolgreich ist vielmehr ein Programm, das am Nationalismus festhält, aber ihn auf gefällige Weise verkauft. Für eine solche Linie steht Marine Le Pen. Sie hatte sich, von ihrem Vater protegiert, 2011 gegen Bruno Gollnisch, den Mann der Antisemiten und Rechtskatholiken, als Parteiführerin durchgesetzt (von 22.000 Parteimitgliedern enthielten sich 5.000). Wenn die Tochter danach wirklich eine Neuigkeit eingeführt hat, dann eine entschlossene Stellungnahme pro Israel. Das hat es zuvor in ihrer Partei nicht gegeben, ist aber eine Tendenz der extremen Rechten weltweit, von den US-amerikanischen Evangelikalen bis zu Viktor Orbán, denen die Politik von Benjamin Netanjahu begreiflicherweise gut gefällt.

Vorläufiger Höhepunkt war der Auftritt Le Pens am 12. November 2023 auf der riesigen Pariser Demonstration gegen Antisemitismus. Die Tochter und Amtsnachfolgerin eines Mannes, der den jüdischen Sänger Patrick Bruel »beim nächsten Mal in den Ofen« schieben wollte, erklärte Israel ihre »uneingeschränkte Unterstützung«. Spätestens seit diesem Tag hat auch die liberale Presse sie für wählbar erklärt, wie Serge Halimi und Pierre Rimbert (Le Monde diplomatique, Februar 2024) analysierten. Serge Klarsfeld, der »Nazijäger«, hält die Partei inzwischen für unbedenklich und würde, wenn es zur Stichwahl kommt, für sie stimmen; Präsident Macron warnte in der letzten Woche interessanterweise weniger vor der Rechten als vor dem »Antisemitismus« der Linken. Die Umdeutung des RN von einer antisemitischen in eine judenfreundliche Partei funktioniert, wie in Deutschland, mittels zweier ideologischer Mechanismen: erstens über die Gleichsetzung von Israel mit den Juden insgesamt, zweitens über die faktisch unhaltbare Behauptung, Antisemitismus ginge nur mehr von Migranten und Linken aus.

Gegen die Schwulen, für die Schwulen

Beim Thema Globalisierung und Einwanderung ist in der Partei der alte Antisemitismus noch immer virulent. Wie Cécile Alduy und Stéphane Wahnich in einer Untersuchung ihrer Rhetorik feststellen (»Marine Le Pen prise aux mots«, 2015), hält Tochter Le Pen sogar am »Großen Austausch« der intellektuellen Nazis fest. Dieser fixen Idee zufolge hegt eine (fast immer als jüdisch charakterisierte) Elite den bösen Plan, die weißen Franzosen gegen schwarze Männer (und Frauen) auszutauschen. Bei Tochter Le Pen heißt das »systematische Ersetzung der französischen Bevölkerung«.

Alduy und Wahnich weisen minutiös nach, dass die Tochter, wenn auch meist moderat im Ton, genau das sagt, was schon der Vater sagte. Der Vater überhöhte die Globalisierung zu einer äußeren und einer inneren Gefahr, die äußere sollen die nichteuropäischen Einwanderer, die innere der »Geburtenrückgang« (dénatalité) sein. Aus dieser Weltanschauung ergeben sich politische Projekte, die man leicht als links missverstehen könnte, etwa das Muttergeld, das sich Vater Le Pen vom »Stillgeld« der DDR abgeschaut haben soll. Doch in seiner Version erfüllt die Maßnahme keinen sozialistischen, sondern einen eugenischen Zweck: Unterstützt werden sollten ausschließlich in Frankreich geborene Mütter, um sie zur Fertilität anzuhalten. Ähnliche Förderungen der französischen »Rasse« schlägt auch das Programm des Rassemblement vor, ansonsten bleibt man strikt gewerkschaftsfeindlich und unternehmerfreundlich.

In der letzten Woche ließ die Partei durchsickern, dass sie, sobald sie an der Macht ist, – um die Staatskasse nicht zu belasten – sämtliche sozialen Vorhaben (auch die Rente mit 60) auf später, sprich: auf den Sankt-Nimmerleinstag, verschiebt. (Le Monde, 15.6.) Lediglich an der Senkung der Energiesteuern halte sie fest – wohl deshalb, weil sie auch Unternehmen zugute kommt.

Bis heute steht im Mittelpunkt der Le-Pen-Politik die rational durchaus nachvollziehbare Forderung einer wenn auch kleinen Gruppe in der französischen Gesellschaft: Die Leidtragenden der Globalisierung wollen vom Staat durch Strafzölle und Subventionen geschützt werden. Noch im Wahlprogramm von 2017 findet sich das in der Formulierung eines »patriotischen Protektionismus« wieder. Schon die Vorstellung, es sei auf Dauer möglich, sich mit nationalen Blockaden einer weltweiten Entwicklung zu erwehren, erscheint fragwürdig. Endgültig irrational – auch in politischer Hinsicht – waren dann die aus der Abschottung heraus entwickelten Züchtungsphantasien des alten Le Pen. Wie die Tochter sie kaschieren will, erkennt man beim Thema Homosexualität.

Die Schwulen waren, weil sie zum Geburtenrückgang beitragen, dem Vater Le Pen ein besonderer Greuel. Die Tochter dagegen besetzt mit ihnen gerne Spitzenposten. Einer dieser Posten ging an Florian Philippot. Der Absolvent von Eliteschulen soll es gewesen sein, der seiner Parteiführerin einschärfte, genauestens auf Umfragen und Medienerscheinung zu achten. »Bislang waren dem Front die Meinungsumfragen und Medien wurst. Wer nun die Umfragen verfolgt, um zu wissen, was er denken soll, verrät den Front«, zitiert Renaud Dély (»La vraie Marine Le Pen«, 2017) ein Urgestein der Partei.

Schwule in Führungspositionen wie Philippot oder auch Steeve Briois hatten es deshalb erst schwer im Front National, Philippot selbst verließ ihn 2017. Unberührt davon machte Marine Le Pen mit diesen und ähnlichen medienaffinen Yuppies, etwa dem zum Premierminister auserkorenen Jordan Bardella, Tapetenwechsel. An der alten Sozialpolitik ändert sich deshalb nicht das Geringste. Anders als ihr Vater protestiert die zweimal Geschiedene zwar nicht mehr gegen die Auflösung der traditionellen Familienstrukturen, aber sie tritt auch nicht für neue ein. So sympathisierte sie mit den katholischen Demonstrationen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, obwohl sie selbst nicht an ihnen teilnahm, sondern ihrer Nichte Marion Maréchal das Feld überließ. Maréchal, die sich 2017 von der Partei distanziert und dann Zemmour unterstützt hat, kündigte nun, nach dem triumphalen Sieg der Tante, ihre Rückkehr an. (Le Monde, 12.6.2024) Nachdem Zemmour, der sich nichts sehnlicher als eine Koalition mit der Le-Pen-Partei gewünscht hatte, ausgebootet war, beschimpfte er Maréchal als »Verräterin«. Dass ihre Rückkehr von Bardella und Le Pen begrüßt wird, zeigt, dass der Rassemblement die Völkischen nicht vergraulen will.

Immerhin, von den gerade in Frankreich und Deutschland herrschenden zentristischen Liberalen unterscheiden sich die Nationalisten in einem Punkt ganz erfreulich: Sie führen ihren Krieg lediglich im Inland, nicht auch noch im Ausland. Als Macron Anfang des Monats mit seiner Forderung nach NATO-Bodentruppen für die Ukraine dicht am Weltkrieg vorbeimanövrierte, widersprach ihm Marine Le Pen in mehreren Fernsehinterviews. Das tat sie nicht aus pazifistischen Gründen – ihre Partei stand stets für eine möglichst große Armee –, sondern schlicht deshalb, weil sie ihre jungen Franzosen nicht im Feld verbluten lassen will. Vorsicht, Geburtenrückgang! Nicht ausgeschlossen, dass sie auch deshalb gewählt worden ist.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Peter Maaßen aus Frankfurt/M. (18. Juni 2024 um 23:47 Uhr)
    Beim Lesen dieses Artikels stellten sich mir Fragen. »Ob sich heute noch autoritär regieren lässt, ist längst beantwortet – von China, vom Iran …« Gibts nicht im Laufe der Zeit auch Phasen, wo zeitweilig mehr oder weniger »Autoritarismus« nötig sein könnte, etwa um humanistische, also sozialistische Emanzipationsprojekte vorerst gegen übermächtige äußere Bedrohungen zu schützen (DDR, Kuba, SU, China …)? Das lässt sich doch nicht schwarzweiß mit ja oder nein beantworten, sondern ist einzelfall- und lageabhängig. Auch die Darstellungen, dass Protektionismus und Imperialismus sich ausschlössen und Parteien entweder Klientelparteien oder populistisch seien, bezweifle ich. Diese Eigenschaften treffen doch letztlich beide auf alle Pro-NATO-Parteien zu, natürlich jeweils in unterschiedlichem Maße. Sie alle vertreten letztendlich möglichst hinter den Kulissen die Interessen der westlichen Milliardäre und Konzerne und treten scheinbar nach außen öfter für Teilgruppen auf. Und dass die Nationalisten in Frankreich und Deutschland »ihren Krieg lediglich im Inland« führten (Schlussabsatz), trifft so in meinen Augen auch nicht zu, weil diese Nationalisten (RN, AfD) verlautbaren, dass sie bei Machtübertragung das zionistische Israel genau so unterstützen würden, wie es heute geschieht. Peter Maaßen, Frankfurt

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