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Der große Jammer

Von Helmut Höge
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»Zum ersten Mal fiel mir auf, dass es in der Leipziger Innenstadt keine öffentlichen Plätze mehr gab. Dass all die Orte, an denen man sich einst versammeln konnte, verschwunden waren … Der Osten ist überschrieben worden«, schreibt Jana Hensel in »Achtung Zone« (2009). Ähnliches geschah auch in Berlin mit dem Alexanderplatz.

2004 wurde im Osten gegen die Einführung von Hartz IV demonstriert. Diese Montagsdemonstrationen waren laut Hensel »ein jämmerliches Bild, das sich bot. Es war kein Platz mehr für sie da.« Immerhin kamen in Leipzig noch 10.000 Demonstranten zusammen (in Hamburg waren es 30). Der Spiegel schrieb damals über die demonstrierenden Ostler: »Sie klagen, sie jammern. Viele hängen der Bequemlichkeit der DDR nach und haben sich an das Prinzip der Eigeninitiative nicht gewöhnt.« Für die Schnullijournalisten der Westpresse waren die einzigen positiven Momente in der Geschichte der DDR zwei Aufstände gegen die »SED-Diktatur«: der der Bauarbeiter 1953 (mit Westunterstützung) und der des Wir-Volkes 1989, der schon ab dem Februar 1990 von der Kohlschen »Allianz für Deutschland« (AfD) nachhaltig beeinflusst wurde.

Für Jana Hensel sind die Straßenproteste nach 1989 (wo es 220 gab) bis heute viel wichtiger. 1990 wurden sie zunächst weniger, aber 1991 waren es bereits 291, 1992 waren es 268 und 1993 noch mehr, nämlich 283. Die Studie, auf die sich die Autorin beruft, endet in jenem Jahr, das auch durch eine zunehmende Härte in der Auseinandersetzung mit der Unverschämtheit der BRD charakterisiert war. In Bischofferode und in der Berliner Batteriefabrik Belfa fanden Hungerstreiks statt, bei Demonstrationen gegen die Politik der Treuhand wurden Spitzel und Provokateure aus dem Westen eingesetzt.

Die am Streik der Kalibergarbeiter in Bischofferode beteiligte Pastorin Christine Haas meinte anschließend über ihre resignierten Mitkämpfer: »Während der Auseinandersetzungen, so anstrengend sie waren, ging es fast allen gut. Danach fiel alles auseinander. Viele wurden krank, vier starben sogar. Nach der Niederlage passierte fast nur noch rückwärtsgewandtes Zeug im Eichsfeld: Schützenvereinsgründungen, Traditionsumzüge und sogar Fahnenweihen.« Neben dem Eingang zum Kaliwerk stand noch 1996 die Büste Thomas Müntzers mit dem eingemeißelten Spruch »Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Mann«. Dies sei leider zu wörtlich genommen worden, erklärte mir der letzte Betriebsratsvorsitzende Walter Ertmer: »Die allergemeinsten haben jetzt die Macht!«

Zwischen 1991 und 1993 gab es die ostdeutsche Betriebsräteinitiative, in die so ziemlich alle zu dem Zeitpunkt noch halbwegs existierenden, aber von gänzlicher Abwicklung bedrohten DDR-Großbetriebe ihre Betriebsräte entsandten. Die Initiative war branchenübergreifend und wurde deswegen von den Branchengewerkschaften IG Metall und IG Chemie bekämpft, gleichzeitig jedoch vom DGB materiell unterstützt: Eine typische Double-bind-Strategie der Westgewerkschaftsorganisationen.

Aus dem »rückwärtsgewandten Zeug« mendelten sich an vielen Orten im Osten dann die »Pegida-Montagsdemonstrationen« heraus (20.000 Teilnehmer allein in Dresden), und diese Bewegung ging dann in der »Alternative für Deutschland« (AfD) auf, deren Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit mit ähnlichen Rechtsentwicklungen in vielen anderen, nicht nur europäischen Ländern korrespondiert. Didier Eribon hat in seinem Buch »Rückkehr nach Reims« (2016) nachgezeichnet, wie aus ehemaligen Linken Rechte wurden. Bei der Bundestagswahl 2017 verlor die Linke laut Hensel 400.000 Wähler bundesweit an die AfD.

2018 veröffentlichte sie zusammen mit Wolfgang Engler eine Diskussion über die bisherigen Erfahrungen von Ostdeutschen: »Wer wir sind«. Engler meint darin, »dass diese Bundestagswahl vielleicht das Ende der Nachwendezeit markiert – so wie das Jahr 1968 das Ende der Nachkriegszeit markiert« (die 68er-Bewegung hatte damals ebenfalls viele Länder erfasst). Der Erfolg der AfD stellt für Engler, »erst einmal gänzlich wertfrei gesagt, die bisher größte Emanzipationsleistung der Ostdeutschen dar«. Eine »Emanzipation«, so Engler, vom Denken der verfluchten »Besserwessis«. Bei der EU-Wahl 2024 war das Ergebnis noch einschneidender: Die Linke kam auf 2,7 Prozent der abgegebenen Stimmen, die AfD dagegen auf 15,9 Prozent.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Saltum (18. Juni 2024 um 15:33 Uhr)
    Artikel 20 GG wird demnächst so lauten: Alle Staatsgewalt geht dem Volke aus.

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