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Aus: Ausgabe vom 19.06.2024, Seite 12 / Thema
Weltliteratur

Eine absolute philosophische Tragödie

Vorabdruck Dialektik ist der konstitutive Begriff der Faust-Deutung. Das hat bisher bloß noch keiner gesehen. Über Goethes Dichtung
Von Thomas Metscher
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Die ganze Welt und ihre Geschichte in eine Studierstube gepresst? Charles Castronovo als Faust in Hector Berlioz’ »La damnation de Faust« an der Staatsoper im Schiller-Theater Berlin, 23.5.2017

In diesen Tagen ist im Kasseler Mangroven-Verlag von Thomas Metscher die Studie »Faust und die Dialektik. Studien zu Goethes Dichtung« erschienen. Wir veröffentlichen daraus leicht gekürzt und mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor das Vorwort. (jW)

Goethes Faust ist fraglos das schwierigste, weil komplexeste Werk der Literatur in der uns bekannten Geschichte der Weltliteraturen. Dies ist sicher ein Grund dafür, dass sich die Germanistik, auch Goetheforschung und Theaterrezeption, in ihrer gesamten Geschichte schwer mit ihm getan haben. Der interpretative Spielraum der Faust-Rezeption übertrifft bei weitem noch die Unterschiede, die wir bei anderen Klassikern der alten und neueren Literatur, selbst bei Homer und Dante, Shakespeare und Swift, Balzac und Melville, Eliot und Thomas Mann, gewohnt sind. So war die Auffassung des Goethischen Titelhelden bis weit in das vorige Jahrhundert hinein durchgehend positiv bestimmt: Faust war der große Held, als liebender Mann und Grenz­überschreiter, als Übermensch einer neuen Kultur, seine Opfer unvermeidlich für den Aufstieg des Helden. Als Gegenstimmen können nur wenige gezählt werden. Selbst in der marxistischen Faust-Forschung, wenn es sie denn gab, überwiegen die Bilder eines »positiven« Faust.

Um die Mitte des 20. Jahrhunderts dann (grob gesprochen) setzte eine Gegenbewegung ein, die am guten Faust kein Haar mehr ließ. Jetzt wurde er gesehen als Verführer und Verbrecher, als Inbild des Bourgeois und Global Player einer nur noch negativ gezeichneten »Moderne«, deren kritische »Phänomenologie« Goethes großes Werk leiste. Michael Jaeger ist die philologisch stärkste Kraft dieser neuen Sichtweise. In die Vorstellung Fausts als »Bourgeois« wurden durchaus auch Gedanken marxistischer Forschung aufgenommen, die es zu diesem Zeitpunkt sehr wohl gab und die nicht auf Lukács beschränkt war, die aber nach 1989 administrativ beendet wurde. Von wenigen Einsprüchen abgesehen, ist das Bild des »perfektibilistischen« Faust der »antiperfektibilistischen« Deutung (Michael Jaeger) gewichen. Es ist dies eine Auffassung, die weit über den akademischen Bereich hinaus reicht und das Faust-Bild von Feuilleton und Theater, der interessierten Öffentlichkeit und sicher auch des schulischen Unterrichts (sofern Goethes Dichtung an deutschen Schulen noch gelehrt wird) nachhaltig prägt.

Die Geschichte des Faust in Deutschland kennt nur wenige Ausnahmen von diesem Schema, und wenn es auf internationalem Parkett solche gibt, so werden es die Stimmen von Einzelnen sein. Eine Geschichte der Faust-Rezeption liegt vor, es ist das Verdienst von Rüdiger Scholz, sie geschrieben zu haben, doch ist sie von Vorurteilen nicht frei. Zudem nennt sie kaum tragbare Gründe für dieses offenkundige Dilemma der Faust-Rezeption und weist keinen gangbaren Weg, ihm zu begegnen. Angesichts einer solchen Rezeptionsgeschichte liegt es nahe, hier von Aporien der Rezeption zu sprechen. Die Aporien der bisherigen Rezeption sind dem Tatbestand geschuldet, dass sie in ihrem interpretatorischen Muster Goethes Text in seinem Grundcharakter verfehlen. Dieser ist auf allen Ebenen – in Figur, Handlung, Bauform und Sprache – durch Widerspruchsstrukturen bestimmt, die ästhetisch konstitutiver Natur sind. Diese im philologischen Sinn fundamentale Tatsache ist von der bisherigen Rezeption nur selten erkannt und nie konsequent verfolgt worden. Der positive Faust der Vergangenheit und der negative Faust der Gegenwart sind, provokativ formuliert, das Resultat mangelnder Erkenntnis des fundamentalen Musters dieser Dichtung. Dies ist, unserer Ansicht nach, das Proton pseudos – die falsche Grundprämisse der bisherigen Rezeption. Nicht erkannt wurde, dass der Widerspruch für diese Dichtung konstitutiv ist; der Widerspruch nicht im logisch-analytischen, sondern im dialektischen Sinn. Goethe ist, unserer Überzeugung nach, der größte Dialektiker unter Deutschlands Dichtern. Er ist für die Dichtung, was Hegel für die Philosophie ist; er ist es, ohne im engeren Sinne Hegelianer zu sein.

Geschichte und Kosmos

Faust ist ein Text, von dem Goethe gesagt hat, dass er 60 Jahre gebraucht habe, ihn zu schreiben. Man sollte ihm Glauben schenken, da er offenlässt, wie viel Anderes er in diesem Zeitraum geschaffen und bewirkt hat. Die früheste uns erhaltene Fassung des Faust, der »Urfaust«, geht auf eine Lesung zurück, die der sehr junge Mann um das Jahr 1770 auf einer Weimarer Hofgesellschaft hielt und die eine Hofdame kopierte. Und noch der Greis hat wenige Tage vor seinem Tod Korrekturen am letzten Akt vorgenommen, die er selbst den »wertesten Freunden« nicht zeigen wollte und in einem Kästchen verschloss – das erst nach seinem Tod geöffnet werden durfte. Die solitäre Bedeutung und hochgradige Komplexität des Faust als Werk der Dichtung freilich hängt nicht von seiner Entstehungsgeschichte ab (die fraglos eine begrenzte Rolle spielte), sondern von den Tatsachen seiner poetischen Produktion – den Modi der Werkgestalt.

Wenn Hegel den Faust die »absolute philosophische Tragödie« nennt und von ihm sagt, kein anderer dramatischer Dichter hätte es gewagt, die gleiche »Weite des Inhalts in ein und demselben Werke zu umfassen«¹, so verweist er auf eine Besonderheit dieses Werks, die es, auch im weltliterarischen Kontext, mit nur wenigen anderen teilt. Es geht Goethe um Geschichte, um den geschichtlichen Prozess in der Totalität seiner Momente. »Seine vollen 3.000 Jahre« bemisst Goethe selbst den Zeitraum allein des Helena-Akts im zweiten Teil, »von Troias Untergang bis zur Einnahme von Missolunghi«. Faust besitzt eine Komplexität des Gehalts, wie sie außer ihm vielleicht nur die Commedia Dantes und das Drama Shakespeares, in der Gesamtheit seiner Werke, besitzen. Goethe gelingt es, die Geschichte Europas als Geschichte der Welt, und diese als Teil der Geschichte der Natur – des Kosmos – zu erfassen, die er in Gestalt eines »pantheistischen Materialismus« (Wolfgang Heise) prädarwinistisch als Geschichte von Naturformen szenisch erzählt und philosophisch begreift. Mensch und menschliche Welt sind für Goethe das gewordene Resultat von Naturprozessen und allein aus ihrem Naturverhältnis angemessen zu verstehen.

Zur Darstellung dieses Prozesses greift Goethe auf die früheste philosophische Überlieferung zurück, so auf Thales’ Begriff des Wassers als Urgrund des Seienden, auf die Dialektik Heraklits, den aristotelischen Realismus und die progressive Linie des mittelalterlich-neuzeitlichen Denkens: von den Arabern (Averroes, Avicenna) zu Bruno, Bacon, Leibniz und Spinoza, von den Zeitgenossen auf Kant und Schiller, mit dem er bekanntlich eng befreundet war, nicht ohne Distanz zur klassischen deutschen Philosophie, schließlich auf Wilhelm und Alexander von Humboldt. Wilhelms Sprachauffassung war sicher auch die seine, mit Alexander verband ihn die Liebe zum Kosmos, wie sich Alexanders Hauptwerk nennt. Goethes eigenes Denken kann, was die Aneignung der philosophischen Überlieferung betrifft, »synkretistisch« genannt werden. Es verschreibt sich keiner besonderen philosophischen Linie, sondern bedient sich der Philosophie »gemischt«, wechselnd in bezug auf Modus und Intention der Darstellung.

Es geht ihm darum, Geschichte und menschliche Welt in ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit ästhetisch zu begreifen, nicht als System oder abstrakte Theorie. Nur zögerlich ist deshalb von Goethes »Philosophie« zu sprechen – in jedem Fall hat die Form eindeutige Priorität vor dem Inhalt, der sich, das ist Goethes feste Überzeugung, allein über die Form erschließt. So ist dann auch seine Aneignung der philosophischen Tradition plural und integrativ (am deutlichsten in der Klassischen Walpurgisnacht), und was bei Goethe »Form« heißt, betrifft die Totalität der ihm bekannten Geschichte der Künste, vor allem aber der Geschichte der Literatur. Er war Meister in allen Gattungen der Dichtung, die er »Naturformen« nennt, weil sie keine subjektiven Setzungen sind, sondern ontologisch-anthropologisch fundiert. Sie entspringen der »Natur der Sache«, aus kommunikativen Handlungen: Darstellen, Erzählen, Singen – Drama, Epik, Lyrik. In diesem Sinn ist Faust ein Werk synthetischer Natur, das auf den drei Naturformen der Dichtung aufbaut. Es ist Einheit des Unterschiedenen, zugleich dramatische und epische Dichtung, episches Theater also, das die Mittel des Lyrischen, die Modi emotionaler Erregung, in einem semantisch zentralen Sinn, gebraucht (man denke an Gretchens Lieder und Euphorion). Integriert in diese Form der Dichtung ist die Oper (als Potential der gestalteten Form) und damit die Musik, das Optische im szenischen Bild und im Handeln der Körper. Auch in diesem konkreten Sinn, bezogen auf die Modi des Literarischen, ist Faust ein »Gesamtkunstwerk«, weil, bezogen auf eine Äußerung Brechts, die »Schwesterkünste« der Literatur der Kunst Goethes zu Gebote stehen.

Welt und Welterfahrung

Worum es ihm ging, ist die Erkundung und die Darstellung von Welt und Welterfahrung im weitesten Sinn – man könnte von erkundender Darstellung sprechen –, und diese, so Goethe, geht über alle Philosophien hinaus. Sie ist allein möglich mit den Mitteln einer Kunst, die sich funktional des Philosophischen bedient. Sie ist philosophisch, ohne Philosophie zu sein. Dies folgt aus der Priorität der Form. Will man hier einen Begriff verwenden, so ist er aus dem Zusammentreten von Symbol und Realismus zu gewinnen. Solche Kunst stellt Wirklichkeit dar, indem sie durch das symbolische Zeichen auf Wirklichkeit zeigt. Sie erfüllt damit die Grundprämisse dramatischer Kunst, wie sie schon Aristoteles im Begriff der Mimesis fasste, der die Grundbedeutung »nachahmender Darstellung« besitzt, den Shakespeare vertiefte, wenn er das Spiel der Schauspieler ein »Zeigen« nennt, das dem Zeitalter »seine innere Form und seinen äußeren Abdruck« – Wesen und Erscheinung – sichtbar macht (»to show the very age and body of the time its form and pressure«, Hamlet, III, 2 ).

Ein Inhalt wird sichtbar durch die dramatische Form. So verabschiedet Goethe den männlichen Gott traditioneller Theologie nicht auf dem Weg eines atheistischen Diskurses, sondern durch den ironischen Modus der Darstellung: Nach dem Prolog im Himmel spielt er keine Rolle mehr in beiden Teilen des Dramas. Er fällt, kann man sagen, »aus ihm heraus«. In der epilogischen Bergschluchtenszene dann ersetzt ein Ensemble weiblicher Gestalten den männlichen Himmel und Gott den Herrn. An seine Stelle tritt die Göttin, die aber nicht mehr ist als die Erste unter Gleichen.

Goethes Verfahren ist das eines dialektischen Realismus, die vorherrschende Darstellungsweise die des Symbols. Konstitutives Mittel im gesamten Text ist die Ironie, die zunächst – durchaus ironisch – an den Teufel gebunden ist, der hier als Wiederkehr des Eiron der klassischen Komödie, als Spaßmacher und Schalk, Pudel und fahrender Scholar begrüßt werden kann, von Beginn aber, zunächst versteckt, das Prinzip der höllischen Herrschaft in sich trägt – bis hin zur finalen Konfrontation, in der er sich als Vertreter des Nichts, des nihilistischen Weltprinzips zu erkennen gibt. Die Konfrontation von Humanität und Barbarei, Realismus und Nihilismus, Marx und Nietzsche, die das kommende Jahrhundert bis in die Gegenwart bestimmen wird, ist hier vorgebildet. Die Gegenmacht zum nihilistischen Weltprinzip ist dann auch nicht mehr Faust, auf keinen Fall Faust als Person, sondern allein noch das Prinzip der Arbeit und der Liebe der letzten Szenenfolge, das, im Anschluss an Ernst Bloch gesprochen, an die Seite des Prinzips Hoffnung tritt.

Die letzte Szene, die meines Wissens kaum je angemessene theatrale Verwirklichung fand, vor der auch ein Stein kapitulierte, wird in der Dramaturgie des dialektischen Realismus Goethes allein dadurch lebendiges Theater, dass die Einzige der realen Figuren der Handlung, die hier ihren Namen – ihre Individualität – behält und jetzt als Führende auftritt, die Unterste und Geschundenste aller Figuren der Dichtung ist: das Gretchen des ersten Teils, von Faust verführt und verraten, aus Verzweiflung zum Kindesmord getrieben, bestimmt für das Blutgerüst einer inhumanen Welt, in ihrer schwersten Stunde von Faust aufs Neue verlassen. Dieses Gretchen ist es, die in den Bergschluchten ihren Namen behält, die verzeiht und als Führende, Lehrende auftritt. Sie spricht von ihrem Glück, der Wiederkehr des Geliebten als Lernender. Sie hat in allem Elend ihre Liebe nicht verraten, wird damit auch am Ende Fausts Retterin. Sie vertritt den »neuen Tag« einer Wirklichkeit werdenden Utopie.

Erkenntnis des Widerspruchs

Die Idee eines Werkzusammenhangs, dies ist das Entscheidende, sollte, liegt er vor, dem Werk-Text selbst entnommen werden. In einem komplexen Meisterwerk wie dem Faust gründet er in der kompositorischen Organik des Textganzen und erschließt sich der genauen Lektüre – dem, was in der englischsprachigen Philologie das »close reading«, das genaue Lesen eines literarischen Texts heißt. In der deutschsprachigen Forschung wird heute oft von Hermeneutik, kaum noch von Philologie gesprochen – ein terminologischer Wechsel, der kaum Vorteile, eher Verwirrung stiftet. Auf keinen Fall aber ist die Organik des Textzusammenhangs dem einzelnen Werktext oder Werkteil zu oktroyieren, was nur allzu oft in der Faust-Rezeption, auch in der dem Anspruch nach seriösen Forschung, der Fall ist. Noch ist der Gegensatz akzeptabel, der sich in der bloßen Addition von Textteilen und Äußerungen erschöpft, die aus Goethes langer Beschäftigung mit Faust erhalten sind (60 Jahre nach seiner eigenen Zeiterinnerung). Ein solches Verfahren läuft Gefahr, die Organik und Komplexität des Textes – den gegebenen Textzusammenhang – aus dem Blick zu verlieren.²

Der von mir behauptete Zusammenhang – die Komplexität und Einheit der Dichtung – ergibt sich aus dem Charakter des Faust als dialektischer Dichtung; wobei unter Dialektik in den Künsten die Darstellung sachlich verbundener Widersprüche: Widerspruchsstrukturen und Widerspruchserfahrungen zu verstehen ist.³ Zur Dialektik gehören Negation und Synthesis als Teile einer Bewegung, die den Widerspruchscharakter der wirklichen Welt zu erkennen gestattet. Goethe selbst hat das Dialektische in seinem logisch-ontologischen Doppelcharakter scharfsinnig erkannt, wenn er schreibt: »Die Dialektik ist die Ausbildung des Widerspruchsgeistes, welcher dem Menschen gegeben, damit er den Unterschied der Dinge erkennen lerne« (Maximen und Reflexionen). Dialektik, dieser Bestimmung nach, ist nicht nur ein Terminus der erkenntniskritischen Methode, eine subjektive Bestimmung also, sondern zugleich ein objektiver Begriff: die Erkenntnis der Dinge der Welt als Ding-Relationen, in ihrer objektiven Verfasstheit als Identität und Differenz. Widerspruchsgeist heißt hier die Fähigkeit des Subjekts, die Dinge der Welt in ihrem Ansichsein: als Identität und Differenz, damit erst in ihren real existenten Widersprüchen, wie dem Zusammenhang des Widersprüchlichen, wahrzunehmen. Kern der Dialektik ist die Erkenntnis des Widerspruchs als Gegensatz und als Einheit.

Goethes Faust, dies die erkenntnisleitende These, ist im konstitutiven Sinn dialektisch verfasst, weil er den bestimmten Widerspruch: das Sein als Identität und Differenz zu seinem Kern hat. Der Grund für den Mangel bisheriger Forschung, Faust als kohärenten Organismus zu erkennen, ist in dem Sachverhalt zu finden, dass Dialektik nie als konstitutiver Begriff des Textverstehens Anwendung fand, deshalb auch der besondere Widerspruchscharakter des Werks und der in ihm handelnden Personen unerkannt blieben. Unbestritten sei, dass es Ansätze gibt, Faust als dialektischen Text zu lesen. Doch ist nie, soweit ich sehe, der Versuch unternommen worden, Dialektik als konstitutiven Begriff der Faust-Deutung auszuarbeiten.

Sein als Identität und Differenz

Das bedeutet nun nicht, Goethes Dichtung der philosophischen Dialektik an die Seite zu stellen; obwohl es gute Gründe gibt, solchen Verbindungslinien nachzugehen. Dialektik im Faust ist etwas anderes als Dialektik in der Phänomenologie – wie im Ganzen des Hegelschen Systems. Der Vergleich wird auch sichtbar machen, dass Dialektik im Faust von anderer Art ist als die von der Philosophie entwickelte; wobei »anders« hier nicht als Terminus der Wertung verstanden werden soll. Es ist die Differenz zwischen begrifflicher Theorie und ästhetischer Gestaltung, an die ich denke.⁴

Ein ästhetisches Werk, insbesondere ein sprachlich verfasster Text, ist eine Form des Verstehens und kann Medium des Erkennens werden. Die Philologie als Wissenschaft der Literatur hat beiden nachzugehen, dem theoretischen Begriff wie der ästhetischen Gestaltung, will sie ihren eigenen Begriff nicht verfehlen. Eine solche Philosophie hat, anders als die dominante analytische Schule, die sich an der positiven Wissenschaft, meist Naturwissenschaft, orientiert, den ästhetischen Logos, das Denken der Kunst zu ihrer Grundlage und ist, bezogen auf die Literatur, philologisch fundiert. Ja, die Einheit von Philologie und Philosophie dürfte eine der Formen sein, in denen es auch in zukünftigem Denken eine originäre Philosophie wird geben können. Gedacht ist an eine Philosophie, die neuer Gedanken wie neuer Formen fähig ist.

Anmerkungen

1 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III (Hegel-Werke, Bd. 15, S. 557)

2 So lautet die kritische Frage auch an die neueste, digitale Verfahren einbeziehende historisch-kritische Faust-Ausgabe (Goethe »Faust«. Historisch-kritische Edition, hg. von A. Bohnenkamp, S. Henke, F. Jannides, Göttingen 2018), ob in dem Sammeln aller Einzelheiten, die mit der Arbeit Goethes an seinem Text verbunden waren, nicht der organische Zusammenhang des Textganzen aus dem Blick gerät, damit dann auch sein Grundcharakter als Einheit von Mimesis und Reflexion. Jaeger spricht von einem »wahren Wunderwerk der Faust-Philologie und der Editionswissenschaft«, das nicht nur seine eigene Deutung bestätige, sondern überhaupt »neue Perspektiven« auf den Faust eröffne (M. Jaeger, Goethes »Faust«, München 2021, S. 125 f.). Der Beweis wäre zu erbringen. Gerade das Beispiel Shakespeares (von dem nichts aus eigener Hand überliefert ist), lehrt, dass auktoriale Informationen wenig zum Verständnis eines komplexen Texts beizutragen vermögen. Die Deutung des Faust, über den wir so viel von seinem Autor wissen, ist um nichts leichter als die des Hamlet, des Lear, des Sturm und des Wintermärchen, über die wir vom Autor selbst so gut wie nichts wissen. Das Zentrum philologischer Arbeit ist der vom Autor sanktionierte Text; nicht mehr und nicht weniger. Additionen dazu werden immer willkommen sein – doch sind sie in ihrer Bedeutung stets kritisch einzuschätzen. Nicht immer bereichern sie den auktorial überlieferten Text – sie können ihn auch überfrachten. Eine ganz andere Frage ist die des Verhältnisses von Text und Kontext eines gegebenen Werks, damit verbunden der Begriff des Kunstprozesses, der das Verhältnis von Autor, Werk und Rezeptivem thematisiert (vgl. Th. Metscher: Ästhetik, Kunst und Kunstprozess, Berlin 2013, S. 72–94). Das Problem kann hier nur benannt, nicht am Werk erläutert werden.

3 Zum Begriff des Dialektischen: Th. Metscher: Integrativer Marxismus. Dialektische Studien. Grundlegung, Kassel 2017, insbes. S. 173–212

4 Vorarbeiten dazu in: Th. Metscher: Pariser Meditationen. Zu einer Ästhetik der Befreiung. Kassel 2019

Thomas Metscher: Faust und die Dialektik. Studien zu Goethes Dichtung. Mangroven-Verlag, Kassel 2024, 610 Seiten, 40 Euro

Thomas Metscher war von 1971 bis 1999 Professor für Literaturwissenschaft und Ästhetik an der Universität Bremen.

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