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Aus: Ausgabe vom 19.06.2024, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Antipädagogik

Von Christoph Horst
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Vorsicht Lebensgefahr. Selbst die auf Stirner geeichten Verfechter der Antipädagogik würden in diesem Fall eingreifen

Im Verlauf der 68er-Bewegung erlebte die antiautoritäre Pädagogik einen Höhepunkt. Wenngleich theoretisch und praktisch mit Schwächen hatte eine Bewegung weg von schwarzer Pädagogik begonnen. Nach dem Abebben der Revolte suchten viele Akteure Halt im Irrationalismus von Esoterik und Psychologie. Der antipädagogischen Bewegung ging es ebenso, und es entstand an ihren Rändern die Antipädagogik, die in jedem Erziehungsverhältnis Macht und Gewalt gegenüber dem von ihr romantisierten Kind sieht. Erziehung gilt ihr immer als Herrschaft.

Wie bei den Gruppen der 68er typisch, kam es auch hier schnell zu einer Spaltung. Auf der einen Seite stand Ekkehard von Braunmühl, der den Klassiker »Antipädagogik. Studien zur Abschaffung der Erziehung« (1975) verfasste. Auf der anderen agiert bis heute Hubertus von Schoenebeck, der die Bezeichnung Antipädagogik nicht mehr benutzt, sondern von Postpädagogik oder »Amication – Freundschaft mit Kindern« spricht. Von außen betrachtet sind die Unterschiede marginal.

Die Antipädagogik, die einen Erziehungsvorgang in guter pädagogischer Tradition Unterstützung nennt, rahmt den Umgang mit Kindern ideologisch, indem sie auf dem radikalen Subjektivismus des Linksheglianers Max Stirner (1806–1856) aufbauend das Ich vereinzelt: »Folglich mühe dich nicht an den Schranken anderer ab; genug, wenn du die deinigen niederreißest«, heißt es in »Der Einzige und sein Eigentum«. Stirner will keine Erziehungsziele setzen, zumindest nicht, wenn sie Autoritäten dienen. Das erzieherische »Um-Zu«, die Teleologie der Pädagogik, ist aber dominant, wenn er sein Menschenbild formuliert – mit dem Ich als einziger Denkmöglichkeit. Dieses Ich existiert allerdings nur als Idee und wird von Stirner völlig losgelöst aus seinem historischen und materiellen Kontext.

In der pädagogischen Beziehung bedeutet dies, dass die Interessen zweier Subjekte aufeinanderprallen und dabei entstehende Konflikte nicht gelöst werden sollen, indem der Ältere sich kraft seiner sozialen Rolle als Erwachsener durchsetzt. Letztlich brutalisiert Antipädagogik insbesondere in der Schoenebeck-Variante den Umgang mit dem Kind. Denn statt eines pädagogischen Bezugs herrscht nun die reine Macht des Stärkeren. Freiheit ist auch in der Erziehung eine Frage der Durchsetzungsmacht. Immer wieder müssen die Antipädagogen die Frage beantworten, was sie tun, wenn ein Kind in eine Steckdose fassen will. Sie würden das Kind wie jeder andere wegziehen – aber nicht, um es zu belehren, sondern weil die Erwachsenen aus eigenem Interesse wollen, dass dem Kind nichts passiert. »Wir sorgen für die Zufriedenheit eines anderen Menschen, weil uns seine Zufriedenheit guttut« heißt es bei Schoenebeck.

Der Erwachse setzt sich also kraft seiner physischen Überlegenheit durch, auch wenn er tausendmal das Gegenteil beteuert und auf eine spekulative psychologische Ebene verweist, auf der das Kind schon verstehe, warum er sich durchsetzen will. Die Existenz einer solchen Ebene unterstellt: Warum sollte ein erzogenes Kind denn nicht auch merken, dass die Erwachsenen es gut mit ihm meinen? Erziehung ist schließlich erst einmal neutral, auch wenn es in der gelebten Erziehung je nach unterschiedlichsten Faktoren, jedoch nie determiniert, durchaus zur Machtausübung kommen kann. Pädagogisches und antipädagogisches Handeln ist schlicht dasselbe. Aber Antipädagogen denken sich eine okkulte Kommunikationsebene dazu. Von Schoenebeck arbeitet mit irrationalen Begriffen wie Seele, Achtsamkeit, Denken mit dem Herzen und behauptet, dass es keine objektive Wahrheit gibt. Antipädagogik kapituliert damit psychologisch aufgebläht vor der Erkenntnis von Kindheit und ihrer Welt.

Heute halten noch ein paar Anarchisten an der Antipädagogik fest, aber praktische oder akademische Relevanz hat sie nicht mehr.

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