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Aus: Ausgabe vom 21.06.2024, Seite 15 / Feminismus
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Fundamentalisten bestimmen

Brasilien: Evangelikale wollen Schwangerschaftsabbrüche mit Mord gleichsetzen. Höhere Strafen als für Vergewaltiger
Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro
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Aktivistinnen in São Paulo protestieren gegen das Gesetz des Kongresses (15.6.2024)

Evangelikale Bundesabgeordnete wollen Brasiliens Schwangerschaftsabbruchgesetz drastisch verschärfen und den induzierten Abort nach der 22. Schwangerschaftswoche mit »Mord« gleichstellen. Die Frauen sowie die den Schwangerschaftsabbruch durchführenden Ärzte, so der Gesetzentwurf PL 1904/24 des Abgeordneten und Pastors der fundamentalistischen Pfingstkirche »Assembleia de Deus« Sóstenes Cavalcante, sollen mit bis zu 20 Jahren Knast bestraft werden, selbst wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist. Den Vergewaltigern selbst indes drohen lediglich sechs bis maximal zwölf Jahre Gefängnis.

Seit die Abgeordnetenkammer den Dringlichkeitsantrag des von 31 Parlamentariern von neun Parteien der sogenannten Bancada Evangélica unterschriebenen Gesetzentwurfs am vergangenen Mittwoch genehmigte, gingen Tausende Brasilianer auf die Straßen der Landeshauptstädte wie São Paulo und Rio de Janeiro, um dagegen zu protestieren.

Bereits jetzt gilt Schwangerschaftsabbruch in dem größten lateinamerikanischen Staat als eine Straftat mit bis zu vier Jahren Gefängnisandrohung, allerdings mit drei Ausnahmen: Erlaubt ist der Abbruch bei einer vorliegenden Fehlbildung des Gehirns des Fötus, bei einer Gefährdung des Lebens der werdenden Mutter und bei einer Schwangerschaft infolge von Vergewaltigung.

Laut Ministerium für Justiz und öffentliche Sicherheit steigen die Zahlen von sexualisierter Gewalt in Brasilien seit Jahren an. 2023 registrierten die Behörden insgesamt 80.757 Vergewaltigungen. Rund 41.000 von ihnen betrafen Minderjährige im Alter bis 13 Jahren. »Vergewaltigungen sind in Brasilien ein Verbrechen, das im wesentlichen gegen Kinder und Mädchen begangen wird«, heißt es im brasilianischen Jahrbuch für öffentliche Sicherheit 2023. Dabei schätzt das Institut für angewandte Wirtschaftsforschung, dass es tatsächlich Hunderttausende von Opfern sind, da nur etwa 8,5 Prozent der Vergewaltigungen in Brasilien der Polizei gemeldet werden.

Hinzukommt, dass die Vergewaltigung von Minderjährigen, die in der Regel im häuslichen Umfeld und von Verwandten oder Bekannten erfolgt, kein einmaliges Ereignis für die Opfer ist. Sie werden oft über Jahre hinweg vergewaltigt. Deshalb kommt es gerade bei minderjährigen Opfern zu ungewollten Schwangerschaften, die wiederum meist erst spät nach der 22. Schwangerschaftswoche entdeckt oder angezeigt werden. Laut brasilianischen Gesundheitsbehörden bringen im ganzen Land durchschnittlich jeden Tag 38 Mädchen unter 14 Jahren ein Kind zur Welt.

Brasiliens Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva erklärte während des G7-Gipfeltreffens in Apulien vergangenen Sonnabend, dass er Schwangerschaftsabbrüche ablehne. Doch das Gesetzesprojekt sei eine »Verrücktheit«. Lula: »Wenn jemand einen Vorschlag vorlegt, bei dem das Opfer einer Vergewaltigung härter bestraft wird als der Vergewaltiger, so ist das nicht seriös.« Das Gesetz sollte den Vergewaltiger mit Strenge und das Opfer mit Respekt behandeln – und nicht umgekehrt.

Einer der 31 Unterzeichner des von Feministinnen »Vergewaltigungs-PL« genannten Gesetzentwurfs der Evangelikalen ist der Bundesabgeordnete und evangelische Pastor Cezinha de Madureira. Als er während einer TV-Sendung von Globo News Mais mit jüngsten wissenschaftlich durchgeführten Studien konfrontiert wurde, die besagen, dass die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung gegen die PL 1904/24 ist, antwortete er: Gott sei seine Studie. »Meine Untersuchung ist mit absoluter Sicherheit präziser als Ihre«, sagte der Pastor. Cezinha de Madureira: »Die Bibel besagt, dass der einzige, der das Recht hat, Leben zu nehmen und zu geben, Gott ist. Das ist meine Untersuchung.«

Noch steht nicht fest, wann die Abgeordneten in Brasília über den Gesetzentwurf abstimmen werden. Doch sollte die Mehrheit der Parlamentarier ihn unverändert oder auch nur abgeschwächt verabschieden, wäre dies nicht nur eine Tragödie für Zehntausende von (minderjährigen) Vergewaltigungsopfern und die brasilianische Gesellschaft. Es wäre auch ein weiterer Hinweis darauf, dass das per Verfassung säkulare Brasilien auf dem besten Weg ist, ein fundamentalistischer Religionsstaat zu werden.

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