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Aus: Ausgabe vom 22.06.2024, Seite 11 / Feuilleton
Theorie

»Wir machen den Bunterschied«

Ein Themenheft der Zeitschrift Mittelweg 36 befasst sich mit dem Thema Diversität
Von Stefan Ripplinger
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Bis zum nächsten Mal: Christopher Street Day in Frankfurt am Main (20.7.2019)

Als sich alle gleich vorkamen, sehnten sie sich nach »Diversität«. Dem vieldiskutierten Thema widmete sich nun auch die Zeitschrift Mittelweg 36, herausgegeben vom Hamburger Institut für Sozialforschung, das nach dem Willen seines Finanziers 2028 geschlossen wird. Der Kulturwissenschaftler Onur Erdur behauptet im Eröffnungsaufsatz, Diversität sei »ein gesellschaftliches und historisch gewachsenes Phänomen, das wissenschaftlich untersucht und problematisiert werden« könne. Aber Phänomene wachsen nicht, sie werden hergestellt.

Wird Diversität nicht hergestellt, zeigt sie sich auch nicht. Das lässt sich leicht an Häftlingen erkennen. Von hoher Diversität, also Verschiedenheit oder Unterschiedlichkeit, wäre es, konfrontierte man die nichtinhaftierte Population mit derjenigen, die in Strafanstalten schmachtet. Da dies aber höchst selten geschieht – die Knackis sind aus den Augen, aus dem Sinn –, wird diese Diversität auch nicht zum Problem. Divers sind immer nur die, die man zu Diversen macht.

Leitdifferenz Leistung

Diversität steht in einem dialektischen Verhältnis zur Gleichheit. Aber zu was für einer Gleichheit? Der Biologe und Philosoph Georg Toepfer weist in seinem Beitrag darauf hin, dass die bürgerliche Philosophie, etwa die des Baron de Montesquieu oder Immanuel Kant, unter politischer Gleichheit nur eine formale verstand; Besitz fiel nicht ins Gewicht. Über den Abbé Sieyès, einen Ideologen der Französischen Revolution, geht Toepfer etwas eilig hinweg. Denn der Punkt, den Sieyès machte, war nicht nur, dass Eigentumsunterschiede vor dem Gesetz nicht zählten, sondern auch, dass politisches Mitspracherecht nur diejenigen haben sollten, die etwas leisten können oder dürfen (entsprechend fielen Frauen, Kinder, Behinderte, Ausländer für ihn raus). Unter allen Diversitäten ist im Kapitalismus diejenige nach Leistung bis heute die leitende.

Toepfer unterscheidet vier Arten, Diversität herzustellen. Zwei von ihnen heben die Diversität lediglich hervor, um sie in einer Gleichheit aufzuheben. Im ersten Fall soll das eine Gleichheit der Gruppe sein. Der Apostel Paulus schrieb an die Galater (3,28) über die höchst diverse frühchristliche Gemeinde: »Hier ist nicht Jude noch Grieche« (race), »hier ist nicht Sklave noch Freier« (class), »hier ist nicht Mann noch Frau« (gender); »denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus«. Martin Luther, stets um die Obrigkeit besorgt, betonte, diese Gleichheit werde nicht für alle Menschen angestrebt. Das wäre vielmehr der Fall bei dem, was ­Toepfer »Verschiedenheit um der Gleichheit willen« nennt. Darunter ist die erwähnte formale Gleichheit der bürgerlichen Ideologie ebenso zu verstehen wie politischer Egalitarismus. Wiederum wird Diversität nur herauspräpariert, damit sie verschwinde.

Grau und Grausamkeit

Anders ist es bei der »Gleichheit um der Verschiedenheit willen«, wenn »verschiedene Lebensentwürfe« als gleichwertig anerkannt werden. Das kann in einer Klassengesellschaft bloß Augenwischerei sein, Toepfer hält sich nicht lange damit auf. Schließlich arbeitet er eine weder von Gleichheit noch von Gleichwertigkeit gesteuerte »Verschiedenheit um der Verschiedenheit willen« heraus, deren Paradigma »Biodiversität« sei. Auf schockierende Weise stellt er Genozide aller Art in eine Reihe mit Identitätspolitik. Wenn aber die Hutu die Tutsi erschlagen, wird zwar eine Verschiedenheit exekutiert, aber doch nur, um eine Gleichheit, eine reine Hutu-Welt zu schaffen. Bei aller Kritik, die sie verdient, beinhaltet Identitätspolitik in der Regel weder Aspekte von »Supremacy« noch von Reinheitsdenken, sondern beharrt auf Differenz.

Die Historikerin Christiane Reinecke geht mehreren Fällen weltweit nach, in denen identitätspolitische Kämpfe sich auf bürgerliches Recht beriefen. Nicht nur soziale Bewegungen, sondern auch Instanzen wie UNESCO und Europäischer Gerichtshof hätten seit den 1950er Jahren die Voraussetzungen dafür geschaffen, Benachteiligung aufgrund von Verschiedenheit, kurz Diskriminierung zu ahnden. Leider sind gerade die Kämpfe, die sie prominent aufgreift, gescheitert: ein Streik von belgischen Arbeiterinnen 1968 und die Beschwerde eines afroamerikanischen Restaurantbesitzers 1970 in London wegen rassistischer Übergriffe der Polizei. Die Arbeiterinnen erhielten zwar mehr, aber immer noch nicht gleichen Lohn, der Restaurantbesitzer wurde abgewiesen, weil »Diskriminierungsklagen gegen die Polizei durch den Race Relations Act nicht abgedeckt« seien.

Reinecke argumentiert, selbst Gerichte, die Diskriminierungsklagen niederschlagen, könnten »Arenen der Aufmerksamkeitserzeugung« sein. Doch die Aufmerksamkeit, die erzeugt wird, verpufft auch wieder. Warum übrigens sollte der juristische Apparat dem polizeilichen in den Arm fallen? Nach wie vor stellen Afroamerikaner, die zwölf Prozent der US-Bevölkerung ausmachen, weit über ein Drittel der dortigen Gefängnispopulation. Aber man sieht sie nicht.

Im besten Beitrag des Heftes übt die Integrations- und Migrationsforscherin Lea Baro grundsätzliche Kritik an Diversitätskampagnen öffentlicher Institutionen. Wir kennen Aktionen wie »Wir machen den Bunterschied«, die uns über Grau und Grausamkeit der Gesellschaft hinwegtrösten sollen. »Entpolitisierte Begriffe wie Diversität eignen sich nicht, um fundamentale politische Veränderungen zu erwirken, da ihr Ziel eher darin besteht, ein gutes Gefühl zu vermitteln.« Vielleicht sollte das »gute Gefühl« durch ein schlechtes ersetzt werden. Baro berichtet von marginalisierten Menschen, die sich als Alibis von Institutionen missbraucht sehen, sich aber wünschen, ihre »Erfahrungen« würden von diesen »anerkannt«.

Aber ist das ein so harmloser Wunsch? Kann die Institution, wenn sie die Erfahrungen einer Schwachen anerkennt, also kennt, ihr nicht gerade dadurch gefährlich werden? Es scheint, über Diversität lässt sich nicht sprechen, ohne auch über Macht zu sprechen.

Lea Baro u. a.: Diversität. Karrieren eines Begriffs. Mittelweg 36, Nr. 2, 2024, 125 Seiten, 14 Euro

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