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Aus: Ausgabe vom 22.06.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
ABC-Waffe

Ein Lied für Grand Hotel Europa

Gilda, Joseph Roth und Jackie Chan, Larbaud und Thomas Mann: Tag und Nacht die ganze Zeit mit Tom Ripley vor dem Video vertan
Von Konstantin Arnold
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Thomas Couture: »Les Romains de la décadence«, Öl auf Leinwand, 1847

Mir kam neulich so eine Idee. Ich saß beim Frühstück im Royal Hotel San Remo, relativ angeschossen, weil ich die Nacht zuvor mit einem älteren Amerikaner durch die Gassen gezogen war. Draußen gewitterte es wie Sau, die Welt schien unterzugehen, aber die Leute drinnen, aus aller Herren Ländern, verhielten sich so, als würde sie nicht. Die Welt da draußen ertrank, aber das Ballett der Kellner ging drinnen einfach weiter, wie immer, als ob nichts wäre, war ja auch nichts, aber egal, es musste ja weitergehen, wie es immer irgendwie weitergegangen ist. In der Ecke, an den Fenstern, spielte sogar jemand Klavier. Ein Lied, das überhaupt nicht passte. Schon gar nicht um die Zeit. Ein Kellner kam und fragte, ob ich noch Saft wolle. Gutes, altes Schauspiel Europa.

Das Royal Hotel San Remo ist ein 150 Jahre altes Hotel. Blumenkästen, Balkone, Markisen. Es ist schneeweiß wie viele der 150 Jahre alten Hotels an dieser Küste und ist in Familienbesitz wie nur wenige. Man könnte jetzt natürlich gleich wieder loslegen, aber es ist zu einfach und falsch ein Grand Hotel als etwas Dekadentes zu bezeichnen, weil man nicht weiß, was Grand Hotels sind und was Dekadenz bedeutet. Es gibt auf der Welt viele luxuriöse Häuser, die sich unterscheiden, genauso wie es viele Möglichkeiten gibt, dieses Wort für sich auszulegen. Nur eines muss jeder Interpretationsgrundlage gemein sein: Dekadenz ist dem Untergang geweiht. Immer. Das Fin de Siècle, das Ende des Römischen Reiches und anderer Reiche und irgendwann auch wir. Wir bauen zwar keine tausendjährigen Gebäude mehr, die mit der Zeit schöner werden. Wir feiern auch keine Orgien mehr, bei denen Champagner in Bächen fließt, wie auf Thomas Coutures »Les Romains de la décadence«, jedenfalls nicht ungestraft.

Unsere Dekadenz ist anders. Sie besteht aus Dingen, die man kaufen kann und Dekoration, die auf etwas macht, das sie nicht ist. Bücherregaltapete, Werbeplakate, Moralismus, Eier aus Bodentierhaltung, Orangensaft ohne Vitamine, Warteschleifen, Telefonieren generell, oder das, was heute noch vom Telefonieren übrig geblieben ist: Menschen, die hoch und runterladen, online kaufen, kaum noch Antiquitätenläden, nur noch mehr Läden, in denen man Telefone kaufen kann, kurze Hosen und Döner. Wir sind eine Einweggeneration, die gern was Besichtigen oder Demonstrieren geht, wenn der Tag lang ist, sich aber lieber fünf Paar Billigschuhe kauft, anstatt eines, das gut ist und lange hält.

Ich bin schon oft an diesem Hotel vorbeigefahren, immer mit dem Zug, auf meinem Weg von Genua nach Nizza oder umgekehrt. Es ist eine schöne Strecke, vielleicht die Schönste, ganz nah am Wasser lang, durch zwei Länder. Man bekommt die Grenze gar nicht mit, außer, dass in Ventimiglia Polizisten einsteigen, die durch den Zug schauen und in ­Menton wieder gehen. Es ist angenehm und irgendwie noch richtig Europa. Ich liebe diese Freizügigkeit. Die Hälfte des Jahres lebe ich in Hotels, die andere Hälfte in Lissabon und Rom und manchmal in Wien. Ich sitze in den Cafés, trage Zugbilletts in der Brusttasche und versuche, egal wo, mit meinem Leben weiterzumachen. Wenn ich bis Weihnachten nicht in der Closerie des Lilas in Paris saß, im Sommer ums Cap d’Antibes schwamm, einmal im Jahr nicht hier Ventimiglia auf den Zug nach Genua wartete, eine Zeitung im Café Sperl las, bei Tito in San Sebastián aß, meine Freundin in Mailand traf, mit ihr durch den Retiro ging oder am Lago di Como darüber nachdachte, Schluss zu machen, ging bei mir gar nichts. Meine Adresse in Rom und Wien ist ein Hotel, in Lissabon eine altehrwürdige Pastelaria.

Nirgends ist das Meer so blau wie hier, das Weiß so weiß, Europa so sehr ­Europa. Die Alpen fallen direkt ins Meer. Man fährt an all diesen Erinnerungen vorbei, den eigenen und den von anderen. An Orten zwischen den Orten, auf der Landzunge von Sestri ­Levante und seinen Buchten, dieser Insel vor ­Ventigmilia, wo wir immer auf den Zug gewartet hatten und ihr nagelneuer Rollkoffer einmal von einem Auto überfahren wurde, und ich nie Farbfilme hatte, und die beiden Fotogeschäfte immer zu gewesen sind, weil wir immer mittags da waren und in dem kleinen Café am Markt warteten. Menton, Éze mit seinen langen Wegen zum Meer, das Cap-d’Ail und das Cap-Ferrat mit ihren ganz kurzen, die Bucht von ­Villefranche, wo wir weit rausgeschwommen sind und ich ein Buch über Modigliani fertig las und natürlich Nizza, Matisse, Balkone, das typische Taxi zum Flughafen, weil die Bahn nicht ganz dort hält, die letzte ­Zigarette, dann die Flughafenhalle, die ich in schlechter Erinnerung habe, weil ich nach einem Sommer, zu viele Anrufe in Abwesenheit hatte, von meiner Mutter, die nie was Gutes heißen …

Wenn man das alles sieht und all diese Villen und Buchten, die um all die Kaps gehen, fragt man sich natürlich, warum man nicht hier lebt, bis einem einfällt, dass die Riviera in Frankreich ist. Man denkt sich, was sich hier sonst nicht alles abgespielt hat. Joe Kennedy sprang hier ins Wasser, nachdem er am Telefon erfuhr, dass Deutschland Frankreich den Krieg erklärt. Hier brachte er seinen Söhnen bei, ihre Ehefrauen später auch zu betrügen. Es gab unzählige unwichtige Diplomatenkinder, deren Leidenschaften sich auf Pferde, Frauen und die fehlende Anerkennung ihrer Väter beschränkte. Churchill meine ich damit nicht, der trank und ging spielen; setzte ein intensives Leben wenigstens nicht mit Frauen gleich, so wie Aly Khan, der saulangweilig war. Nach dem Krieg heiratete der Rita Hayworth, die im Hotel du Cap darauf hoffte, sich mit Orson Welles zu versöhnen. Elsa Maxwell brachte beide bei einem Dinner zusammen, wie die Callas zum Onassis. Da waren Essen unter Bäumen, lange Unterhaltungen am Pool, leichte Kleidung, Spitznamen, Blicke, Körper, alte Freunde, neue Zeiten und eine Hayworth, die klagte: Ach, jeder Mann, den ich kenne, verliebt sich in Gilda, aber er wacht mit mir auf.

Die Küste avancierte zu einem Mythos, der so oft erzählt wurde, bis er stimmte. Stéphen Liégeard erfand das Lebensgefühl der Riviera in seinem Buch »La Côte d’Azur«. Es kamen Diktatoren und Generäle, Würdenträger, Industrielle, Prinzen, Emire, Zaren, Maharadschas, deren Namen exotische Bilder aus fernen Ländern heraufbeschworen, obwohl ihre Reiche vor dem Kollaps standen. Sie kamen als Aristokraten und sind als Tellerwäscher geblieben. Bis die Künstler im Sommer kamen, kam keiner im Sommer, und als Coco Chanel dann zum ersten Mal mit einem braunen Teint aufkreuzte, war der Skandal groß und die Sommersaison an der Riviera eröffnet. Man baute eine Zugverbindung, und die Küste avancierte zum ersten internationalen Ferienziel, auch für Exilanten. Dazu kamen neureiche Gehversuche, Aufschneider, Beaus, Handlungsreisende, Hochstapler wie Felix Krull und ich, Salonlöwen, Blender, Lebemänner und natürlich Frauen, die alles liebten, was aufregend ist und einen Wechsel der Szenerie bedeutet. Sie kamen nach Monte-Carlo, Nizza, Antibes, Cannes …

Man brauchte natürlich einen geeigneten Ort, einen diskreten, an dem man sich traf. Grand Hotels sind daher die geeigneten Bühnen, auf denen sich die Geschichte am liebsten abgespielt hat. Orte, an denen die Welt genesen wollte. Egal, was für Zeiten waren und was für Wetter herrschte, wer gerade regierte oder nicht. Sie leuchten wie weiße Botschaften der Zivilisation an den Küsten. Sie dampfen wie große Schiffe in den Bergen, die durch die Zeit fahren und transportieren die Gegenwart einer vergangenen Zeit, damit es die Welt von gestern, auch morgen noch geben darf. Sie bewahren längst vergessene Höflichkeiten, halten ausgestorbene Professionen am Leben und bewahren Traditionen wie das Aufräumen eines Schreibtisches, ohne das Chaos der Dinge zu verlegen.

Der persische Dichter Omar Chayyām sagte einmal, dass mehr Leute auf der Welt fähig sind, Bücher zu schreiben, Heere zu führen und Kaiserreiche zu reagieren, als ein Hotel zu leiten. Was diese Gebäude bedeuten, wird erst im Ernstfall klar. Sie überstehen Weltkriege und Besuche von Dieter Bohlen. Sind Bollwerke gegen das Jahrhundert, in dem sie gerade stehen.

An der Wiege der Völker ist das Gastrecht heilig. Recht auf Herberge und luxuriöser Entfaltung sind eine institutionelle Beruhigung, die einem Kinderglauben gleichkommt: kein Feind in der Nähe, der Tod umgänglich, immer Licht und Gewissheit, dass irgendwo noch jemand wach ist und Europa lebt. Man kommt nach Jahrzehnten wieder, und alles ist noch wie immer, und die gleichen Leute arbeiten da und erkennen einen wieder. Sie arbeiten im Sommer hier und im Winter dort. Die Sommeliers tragen Fliegen, die Restaurantchefs Schwarz, alles in bester Ordnung. Das ist die Botschaft der Grand Hotels, Schlafwagen und Kaffeehäuser, eine zeitliche Grenzenlosigkeit, Immerbereitschaft, Morgenröte und immer wieder ein neuer Tag.

Für mich ist das Grand Hotel Savoia irgendwie das europäischste Hotel. Nicht das beste, bei weitem nicht, aber es ist das europäischste, weil Genua für mich die europäischste Stadt ist. Irgendwie sinnbildlich für Aufstieg und Fall. Eine Mischung aus Neapel und Traum, aus dem man nicht erwacht, wenn man, wie ich, immer nur eine Nacht bleibt. Es ist dann wie Wien am Meer, mit der Schwere Prags und von erstaunlicher, mediterraner Leichtigkeit. Die größte Altstadt Europas, aber Touristen haben sie nie erobern können, dank Drogen, Mafia und wütendem italienischen Rap. Ein einziges Hafenviertel, das den Hang hinaufklettert. Christopher Kolumbus, antike Handelsmetropole, einstige Meereshauptstadt der Alten Welt, die Brücke der Völker, das Tor zum Orient, durch das die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht das europäische Festland betraten und nach Afrika, das gleich hier in Ligurien beginnt. Einwanderer hoffen auf Arbeit, zwischen den Palästen, in schmalen Gassen, die auf großen Plätzen enden und Leuchtschriften von Bars, die verraten, dass diese Stadt doch am Leben ist. Huren und Kunstsammlungen, nur einen staubigen Spalt voneinander entfernt. Ruß, Ratten, Straßenecken. Gierige Menschen, die einem in den Schaufenstern nachschauen, und wenn man sich nach ihnen umdreht, wieder ganz Verkäufer sind. Ich dachte früher, dass das Savoia das Hotel aus Joseph Roths Buch ist, aber das steht in einem fiktiven Osteuropa und heißt »Hotel Savoy«.

Das erste Mal waren wir hier vor einem langen Riviera-Trip, das zweite Mal vor Portofino und dann ein paarmal dazwischen, aber ich will jetzt nicht erzählen, wie toll Genua ist oder was man hier macht. Ich mache nämlich gar nichts, außer mich bei Sonnenuntergang geduscht an die Tische zu setzen und mir die Namen der Bedienungen zu merken.

Auf meinem Weg nach San Remo kam ich am Abend in die Stadt, Bahnhof Principe. Man braucht kein Taxi, weil das Hotel gleich gegenüber ist. In der Mitte des Platzes stehen Bäume, unter denen man gehen kann, die große Bahnhofsuhr, die Hauptpost links, der Kiosk für Zeitung und Zigaretten. Alles hier auf der Suche nach Tagen außerhalb der Zeit. Ich ging ins Hotel und viel von dem Gefühl, das wir damals gehabt hatten, vor unserer ersten Reise, war noch hier. Wir waren verliebt und glücklich und hatten noch keine Erinnerungen, denen wir gerecht werden mussten. Die Liebe war auch immer noch da und die Zeitungen hingen genauso, derselbe Concierge, nur das Glück, das hatte mich verlassen. In der Lobby saßen die gleichen Leute, oder andere, aber vor den gleichen Drinks, als ob sie mit dem Weitertrinken auf mich gewartet hätten.

Vom Concierge erfuhr ich alles, was ich über Genua wissen musste. Er sagte, es gäbe zur Zeit eine Nostalgie-Ausstellung. Er hatte ein junges, vom mediterranen Klima verschontes Gesicht und verkörperte jenes Gleichgewicht, das die Lobby eines Hotels in einem erzeugen kann. Er war höflich und schmeichelte schon damals meiner Freundin, nicht nur wegen des Trinkgelds, denn wir hatten keins.

Grand Hotels sind die Gegenwart einer Vergangenheit, die noch nicht ganz vergangen ist. Sie sind die letzten Überbleibsel einer untergegangenen Welt aus Briefbeschwerern, Telegrammen, Depeschen, Gepäckträgern, Abendzeitungen, Manschettenknöpfen und Nachtzügen, die wie Dampfschiffe noch romantische Zusammenkünfte zuließen. Sie sind ein Vaterland für jene, die sich keinem zugehörig fühlen und zwischen den Zeiten gefangen sind. Der Kellner ist Italiener, der Concierge Genovese, der Portier aus der Slowakei, der Koch Spanier, die Hausdame Portugiesin und der Barmann ein Österreicher, kaiserlich, selbst wenn er Befehle empfängt. Allesamt der Selbstverständlichkeit ihrer Heimat entrissen, für die sowieso keiner was kann, da die Welt nicht, wie gerne angenommen, aus nur einem einzigen Ort, sondern Millionen Orten besteht, die sich alle für die einzigen halten. Man kommt nach langer Zeit zurück, und es ist egal, was war und wer man nun ist.

Luxus ist in erster Linie das Spiel mit Unsicherheiten. Er entsteht, wenn das Angebot eines Menschen das Bedürfnis eines anderen übertrifft und man das Kostbarste verschwendet: Zeit. Grand Hotels sind daher wunderbare Orte, die aus der Zeit fallen und somit ohne Ende sind. Die Welt könnte untergehen, und man würde das dort erst eine Woche später mitbekommen, durch die unaufgeregte Information eines Concierge. Ich habe ja kein Smartphone. Für mich ist das einfach keine Art des Kommunizierens. Für mich funktionieren nur Briefe. Beim Schreiben eines Briefes erkennt man, was man erkannt hat. Man schreibt, was war und was nicht war und was nur etwas wird, wenn man es schreibt.

Natürlich ist es schwierig, wenn man sich eine Zeit nicht gesehen hat und erzählen muss, wie etwas war. Anders ist es, wenn man mit einem Menschen an all diesen Orten gewesen ist. Man hofft, dass der vergangene Teil des Lebens ersichtlich bleibt und dass es ein Leben nach der Liebe gibt, trotz der geteilten Erinnerung. Man kann es noch immer nicht glauben und macht trotzdem weiter, mit Menschen, die es auch nicht glauben können, mit noch weniger Geld an den besten der alten Orte und einigen neuen.

Es war schön, nach so einem Reisetag auf die Straße zu treten. Sicher geworden durch Bad, Aufzug und frischen Anzug, die Beine schwer, aber leicht im Gang. Man kommt aus dem Hotel und steht schon im Ghetto, geht rechts von der Via Balbi lang. In anderen Städten ist das nicht so, da ist das Zentrum teurer als die Außenbezirke. Man verliert sich in den Gassen, bis man von einer schönen Trattoria gefunden wird, deren weiße Tische vor der San Lorenzo im Freien stehen. Kaum jemand hier. Vielleicht so, wie es nie war. Man hört das Besteck an den Tischen. Es klingt wie das Eis eines Drinks oder jemand, der an einem Sommerabend auf Kies geht. Man sitzt draußen vor der Kathedrale auf dem Platz und bläst Rauch in den Abendhimmel, folgt ihm, bis er vor den Fenstern der Paläste verfliegt. Manchmal kommt ein Kellner und schenkt nach. Frieden! Bis von irgendwo Amerikanisch herkommt und Italienisch, das Amerikanisch gesprochen wird. Ich verstehe nie, wieso man das nicht leise sprechen und ordentlich »gracie« sagen kann oder vom Wein sprechen muss oder so oft »like« sagt, dass das Wort häufiger vorkommt als jedes andere Wort, das man im Satz gebraucht. Sie setzen sich neben mich und fragen, was ich hier so mache, und ich sage nichts. Ich sei nur ein Autor, der sich von seinen Leidenschaften ernährt und Geschichten schreibt, die alle toll finden, aber keiner verlegen will. Sie sagen, sie hätten gerade erst »Ripley« gesehen, eine Serie basierend auf Patricia Highsmiths Buch und den Filmen, und dass ich ja genauso wäre, nur hoffentlich ohne Mord. Sie sagen, es gäbe hier zur Zeit eine Nostalgie-Ausstellung, falls mir das hilft. Ich antworte, ich hätte davon gehört, aber die Zeit sei mir egal. Sie vergeht in Zyklen, weil der Mensch ihr Vergehen so besser erträgt. Die kulturelle Ausformung dieser Zyklen nennt man Mode und deren melancholische Wiederaufnahme Nostalgie. Es geht darum, die Dinge durch ihre ständige Wiederholung auf eine Essenz zu destillieren, die tröstet, weil manches seit Siebzehnhundertschießmichtot schon so ist. Die Frage, zu welcher Zeit eine Stadt am besten ist, ist also hinfällig. Madrid im Mai, Wien im Dezember, Paris um 1900, Berlin besser nie, und Genua kann früher gar nicht besser gewesen sein. Wir schieben Veränderungen nur gerne den Städten zu, aber sie ändern sich nicht so wie wir. Es ist ein Irrtum, dass man bestimmte Zeiten für besser hält, die man selbst nicht erleben durfte und meint, dass eine Stadt, nicht mehr so ist, wie sie vielleicht nie war, nur weil man sie einmal zu einem bestimmten Zeitpunkt gesehen hat und von ihr verlangt, dass sie sich bis zum nächsten Besuch auch nicht verändert. Diese Amerikaner wollen alle immer überall unbedingt eine gute Zeit haben und deswegen ist ihre Zeit meistens schlecht.

Am nächsten Morgen nahm ich den ersten Zug nach Nizza. In Imperia stieg eine sehr schöne Frau ein, und ich wusste nicht, auf welche Seite ich gucken soll. Rechts war das Meer, links sie, und ich saß gegen die Fahrtrichtung. Wir sprachen ein bisschen, und sie sagte, dass San Remo eigentlich ganz schön sei und gar nicht, wie man denkt, vor allem zu dieser Zeit. Es gäbe Boulevards, auf denen man flanieren kann und eine Promenade, die nach irgendeiner Zarin benannt wurde. Man sehe überall das Meer die Straße runter. Der Ausblick hätte viel Glanz in die Fassaden der Häuser gebraucht, wie in Triest, Karlsbad, Stresa.

Diesmal fuhr ich nicht vorbei, diesmal blieb ich. Nicht so lang wie Valery Larbaud, so versoffen wie Roth oder talentiert wie Ripley und doch so wie alle, die wir uns in Städten als jemand ausgeben, der wir nicht sind, bis wir es werden, weil wir einfach lange genug so getan haben als ob. Den Tag über arbeitete ich an Geschichten von Orten, und nach der Arbeit ging ich schwimmen. Es regnete die meiste Zeit, aber vielleicht prägen sich Orte, an denen man im Regen geschwommen ist, besonders gut ein. Diese Geschichte nahm mich in Anspruch, und ich fürchtete, dass alles weg wäre, aber es war nie wie weg und kam immer wieder wie eine bessere Zeit oder die Lust, nachdem man sich befreit hat. Ich ärgerte mich, weil ich zweifelte und San Remo nicht genoss und in meiner Geschichte woanders war, aber vielleicht braucht es diesen Zweifel, um es immer zu schaffen. Ich hatte gelernt, dass man sich verdammt schlecht fühlen kann und plötzlich gut und umgekehrt und dass es so eigentlich egal ist, wie man sich fühlt. Man kann in Genua sein oder in San Remo und versuchen, glücklich zu sein. Aber gleich nach dem Erreichen von was folgt das Bewusstsein der Nichtigkeit, und man rettet sich vor diesem Dilemma in die Nächte und entschädigt sich durch Sex. Ich trank einsame Aperitifs an der Hotelbar und ging essen, schlafen, das war’s. Ich war gerne allein, nur eine Nacht nicht, weil mein Alleinsein von einem Amerikaner gestört wurde, der nach Sän Räeimöh gekommen war, weil er dachte, die Grand Tour, die gäbe es noch. Er war schon sehr alt und stellte sich als Audiophiler vor, der noch eine Zeit ohne Aids erlebt hatte und deshalb jetzt alleine war. Ein Mann, der von sich sagte, dass er ein filmreifes Leben geführt hatte und dass er ganz anders wäre als andere, so wie wir alle. Er schien gebrochen, und ich ließ ihn von sich erzählen. Er fing dann wieder mit diesem Audioscheiß an und wiederholte sich und sagte die ganze Nacht eigentlich nur eine Sache, die die Nacht an der Bar mit ihm wert gewesen war: Das Leben sei immer eine Veränderung, und wir tun so, als ob es das nicht wäre. Beim Frühstück am nächsten Tag dachte ich darüber nach, und die Geschichte endet, wie sie beginnt. Von meinem Platz aus sah ich eine russische-orthodoxe Kirche zwischen den Villen im Regen stehen. Etwas Sonne kam durch. Die Kellner blieben gleich. Das war schön.

Konstantin Arnold, Jahrgang 1990, ist freier ­Autor und lebt in Lissabon. Er schreibt Reportagen für Tageszeitungen und Magazine, um sich freitags gute Oliven und portugiesischen Rotwein leisten zu können. 2020 veröffentlichte er seinen Debütroman »Libertin. Briefe aus Lissabon« (Proof-Verlag). Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle in der Ausgabe vom 9./10. Dezember 2023 die Kurzgeschichte ­»Epigone«.

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