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Aus: Ausgabe vom 24.06.2024, Seite 7 / Ausland
Nahostkonflikt

Menschliche Schilde

Israel: Soldaten binden Gefangenen auf Motorhaube. Spannungen mit Hisbollah und Jemen nehmen zu
Von Gerrit Hoekman
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Das israelische Militär arbeitet häufig gegen, statt mit dem Roten Halbmond (Tulkarm, 21.6.2024)

Israelische Soldaten haben am Samstag auf der Westbank einen schwer verletzten Palästinenser auf die Motorhaube ihres Jeeps gebunden und durch die Straßen der Stadt gefahren. Die Soldaten passierten zwei palästinensische Krankenwagen, denen sie den Verletzten hätten übergeben können. Der Vorfall ereignete sich während einer Razzia in Dschenin. Ein Video des Vorfalls kursiert in den sozialen Netzwerken. Die Nachrichtenagentur Reuters hat die Aufnahme am Samstag verifiziert und den Namen des Verletzten recherchiert: Mudschahid Asmi.

»Der Jeep fuhr vorbei, und der Verletzte lag auf der Motorhaube«, erzählte der Fahrer eines der palästinensischen Krankenwagen dem TV-Sender Al Dschasira. »Ein Arm war an die Windschutzscheibe gebunden und der andere lag auf seinem Bauch. (…) Sie weigerten sich, uns den Patienten zu übergeben.« Später hätten die Soldaten Asmi freigelassen. Er sei in ein Krankenhaus gebracht und dort operiert worden.

Das israelische Militär teilte mit, die Soldaten hätten gegen die Richtlinien verstoßen. Die Armee sei bei der Razzia allerdings auch beschossen worden. »Während des Schusswechsels wurde einer der Verdächtigen verletzt und festgenommen«, erklärte die Armee laut BBC am Samstag. »Unter Verletzung von Befehlen und Standardverfahren wurde der Verdächtige von den Streitkräften festgenommen, während er auf einem Fahrzeug festgebunden war. Das Verhalten der Streitkräfte im Video des Vorfalls entspricht nicht den Werten der IDF.« Der Vorfall werde untersucht. Der Verletzte sei in die Sanitätsabteilung gebracht worden.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist in der Vergangenheit nicht müde geworden, seine Armee als die moralischste der Welt zu bezeichnen, auch wenn zahllose Ereignisse in der Westbank und im Gazastreifen eher das Gegenteil beweisen. Die italienische Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die besetzten Gebiete Palästinas, Francesca Albanese, nannte den Vorfall »menschlicher Schutzschild in Aktion«. Soll heißen: Die Soldaten haben den Verletzten auf die Motorhaube geschnallt, um nicht beschossen zu werden. Auf der Kurznachrichtenplattform X schrieb die Juristin: »Es ist verblüffend, wie es einem Staat, der vor 76 Jahren gegründet wurde, gelungen ist, das Völkerrecht buchstäblich auf den Kopf zu stellen.« Für einige einflussreiche Mitgliedstaaten der UN erfülle der Multilateralismus offenbar keinen relevanten Zweck mehr, so Albanese.

Es wäre nicht das erste Mal, dass die israelische Armee palästinensische Zivilisten als Schutzschilde für ihre Soldaten missbraucht. Der jüdische Historiker Zachary Foster hat mehrere Fälle der letzten Monate zusammengetragen. Am 3. Mai verbreitete der arabischsprachige Kanal von Al Dschasira ein Video, in dem ein älterer Palästinenser von israelischen Soldaten mutmaßlich gezwungen wird, ein Gebäude im Gazastreifen zu inspizieren – über seinem Kopf zwei israelische Drohnen. In Hebron schoben im Januar drei israelische Soldaten einen Palästinenser vor sich her, ein Soldat hielt dem Mann ein Gewehr in den Nacken.

Unterdessen nehmen an der israelisch-libanesischen Grenze die Spannungen zwischen Israel und der schiitischen Hisbollah zu. Israel sei »auf jeden Einsatz vorbereitet, der erforderlich sein könnte, im Gazastreifen, im Libanon und in anderen Gebieten«, sagte der israelische Verteidigungsminister Joaw Gallant laut dpa vor seiner Abreise in die USA am Sonntag. »Unsere Beziehungen zu den USA sind wichtiger denn je. Unsere Treffen mit US-Repräsentanten sind entscheidend in diesem Krieg.« Der US-Sender CNN berichtete, ranghohe US-Repräsentanten würden Israel volle Rückendeckung in einem umfassenden Krieg gegen die Hisbollah zusichern.

Seit mehr als acht Monaten beschießen sich Israel und die Hisbollah mit wachsender Intensität. Am Sonntag veröffentlichte die Hisbollah Aufnahmen sensibler Ziele in Israel, die sie ins Visier nehmen könnte. Dazu gehören laut dem libanesischen Fernsehsender Al Mayadeen das Forschungszentrum des Atomreaktors Dimona in der Wüste Negev, der internationale Flughafen von Tel Aviv und der Luftwaffenstützpunkt Nevatim. Weitere Ziele seien der Sitz des israelischen Sicherheitsministeriums, der Luftwaffenstützpunkt Ramat David und das Karish-Gasfeld vor der libanesischen Küste, warnte die Hisbollah. Vor wenigen Tagen hatte die »Partei Gottes« auch dem EU-Mitglied Zypern gedroht, es könne Kriegspartei werden, wenn es Israel unterstütze. Am Sonntag gab die Hisbollah bekannt, sie habe den Armeestützpunkt Ayelet HaShahar in Nordisrael mit Drohnen angegriffen. Israelische Medien bestätigten den Angriff.

Ein offener Krieg, in dem Israel in den Libanon einmarschiert, ist nicht ausgeschlossen. Er könnte sich auf die gesamte Region ausweiten. Bereits jetzt haben die Feindseligkeiten im Gazastreifen und an der israelisch-libanesischen Grenze erhebliche Auswirkungen auf den Nahen und Mittleren Osten: Fracht per Schiff durch das Rote Meer zu transportieren wird für die Reedereien zunehmend zu einem Vabanquespiel. Die auch als Huthi bekannten Ansarollah im Jemen, die sich mit der Hamas und der Hisbollah solidarisch erklären, haben in den letzten Wochen mehrere Frachtschiffe leck geschossen oder schwer beschädigt. Am frühen Sonntagmorgen teilten die Huthi Reuters zufolge mit, dass sie am Samstag im Hafen von Haifa vier Frachtschiffe mit Drohnen angegriffen hätten. Die Schiffe hätten »das Verbot der Einfahrt in die Häfen des besetzten Palästina verletzt«. Es habe sich um eine gemeinsame militärische Aktion mit dem Islamischen Widerstand im Irak gehandelt.

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