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Aus: Ausgabe vom 24.06.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Die Zeit gegen den Tod

Eine Palliativpflegerin in einer Ménage-à-trois: Eva Trobischs zweiter Spielfilm »Ivo«
Von Holger Römers
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»Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen« – Minna Wündrich als Ivo

»Ivo« handelt vom Verstreichen der Minuten, der Stunden, der Tage. Das bezieht sich zunächst einfach auf die Zeit, die die Titelfigur (Minna Wündrich) am Steuer ihres Kleinwagens verbringt, während sie als Palliativpflegerin zwischen dem Ruhrgebiet, den Außenbezirken Kölns und dem Bergischen Land unterwegs ist. So macht sie gleich im ersten Dialog ihrem Unmut darüber Luft, dass ein Krankenhaus ihr unnötige Fahrzeit aufgebürdet hat, indem es sie nicht rechtzeitig über den Tod eines Patienten informierte. Vom Beginn des Films bis zu seinem Ende interpunktieren zersiedelte Landschaften, deren Impressionen am Autofenster vorbeihuschen oder sich in stockendem Verkehr verfestigen, die episodische Handlung. Ivo versucht derweil, diese tote Zeit zu beleben, indem sie Songs aus dem Radio mitträllert oder Fast food aus einem Drive-in verschlingt.

Sobald sie sich in den Häusern oder Wohnungen der Patienten aufhält, führt der Erzählrhythmus uns indes vor Augen, dass der Zeitdruck, der sonst im deutschen Gesundheitssystem auf den Beschäftigten lastet, ausgerechnet dann abnimmt, wenn die zu pflegenden Menschen schon an der Schwelle zum Tod stehen. In den sehr verschiedenen Haushalten, die die Protagonistin regelmäßig aufsucht, herrscht eine merkwürdige Auszeit: Manche Angehörige verlieren unverhohlen die Geduld, während andere sich zu völlig unrealistischen mittelfristigen Planungen verleiten lassen.

Unter diesen Vorzeichen ist wohl die Affäre zu verstehen, die Ivo mit Franz (Lukas Turtur), dem Ehemann ihrer Patientin Solveigh (Pia Hierzegger), eingegangen ist. Jedenfalls verzichtet Eva Trobisch auch bei der Skizze dieses intimen Dreiecksverhältnisses, aus dem die Regisseurin und Drehbuchautorin den denkbar zartesten Plot ableitet, auf eine Verdeutlichung der Hintergründe. Vor allem das erinnert im zweiten Spielfilm der 40jährigen an ihr fulminantes Debüt von 2018, das ebenso abstrakt angelegte wie genau erzählte Vergewaltigungsdrama »Alles ist gut«. Klar scheint in »Ivo« bloß, dass die Sterbende zugleich die engste Freundin der Pflegerin ist.

Solveighs Tod wird also auch einen Einschnitt in Ivos Privatleben markieren, das sich ohnehin in einer Phase des Übergangs befindet. Ihre jugendliche Tochter Cosima (Lilli Lacher) nimmt, während sie einen Auslandsaufenthalt vorbereitet, die Zukunft geradezu vorweg, indem sie ständig Videochats mit einem jungen Mann führt, der bereits in der Ferne ist. Wenn die Hauptfigur wiederholt eine Mailboxnachricht abhört, scheint sie sich indes in die Vergangenheit zurückzusehnen, da sie offenbar einem verstorbenen Partner nachtrauert.

Dazu passt, dass Laura Lauzemis’ elliptische Montage die konkreten zeitlichen Zusammenhänge verwischt, während Auftritte von Laien, die vor Adrian Campeans Kamera jeweils ihren gewohnten Beruf – vom Verkäufer im Sanitätshaus bis zum Bestatter – ausüben, dem Geschehen beiläufig Alltäglichkeit verleihen. Entsprechend unaufdringlich stellt sich zu Beginn des letzten Aktes ein Moment der inneren Sammlung ein, wenn Ivo mit Cosima unvermittelt einen Ausflug unternimmt, der einen kurzen Aufenthalt im Nevigeser Wallfahrtsdom umfasst. Dort suggeriert das schummrige Licht, das durch die Buntglasfenster fällt, den von Kirchenbauten traditionell beabsichtigten Vorschein jenseitiger Ewigkeit – während der tröstliche Effekt reizvoll vom Mix aus Betonbrutalismus und Expressionismus gebrochen wird, der für den Stil des Architekten Gottfried Böhm charakteristisch war.

Ähnlich subtil kommt vor dem Hintergrund von Trobischs zielgerichtetem Impressionismus aber auch die relative Dauer zweier anderer zentraler Szenen zur Geltung: zum einen der Dialog, in dem Solveigh mit dem Arzt Johann (Johann Campean, der auch in der Realität einen Palliativdienst leitet) die schleichende Wirkung einer Sedierung bespricht, zum anderen dann der dramatischste Augenblick des ganzen Films, dessen Eintreten ganz diesseitig von Alltagsbeobachtungen in einer anonymen Vorstadtstraße umrahmt wird.

»Ivo«, Regie: Eva Trobisch, BRD 2024, 104 Min., bereits angelaufen

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