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Aus: Ausgabe vom 24.06.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Wendejahre

Er wollte nur helfen

Die Tränen der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft: Über die Memoiren Bernhard Vogels
Von Nico Popp
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Da kann er nur lachen: Bernhard Vogel in der Landesvertretung Thüringens in Berlin (6.9.1999)

Wer die 90er Jahre in Thüringen verbracht hat, wird sich an diesen Mann erinnern. Er grinste unentwegt und lachte oft, was auch deshalb so auffallend war, weil er den Ministerpräsidenten in einem Landstrich gab, in dem anlasslose Heiterkeitsausbrüche eher unüblich sind und damals die allermeisten Leute sowieso nichts zu lachen hatten. Bernhard Vogel schien, und davon kündete nicht nur das ständige Feixen, selbst am allermeisten davon überzeugt zu sein, dass seine Regentschaft ein einziges Geschenk ist – an seine Partei und an die Untertanen.

Nun hat der inzwischen 91jährige Vogel, der gleich in zwei Bundesländern Ministerpräsident war, Memoiren vorgelegt, die diesen Eindruck bestätigen – auch wenn man nach der Lektüre des ganz überwiegend aus politischen Erbauungsphrasen und schiefen Anekdoten zusammengefügten Buches immer noch nicht weiß, ob Vogels politische Einfalt echt ist oder gespielt. Echt ist jedenfalls das kleinkarierte Gedächtnis des Professorensohns (der Vater war seit 1932 Mitglied der NSDAP, was ihn auch in der amerikanischen Besatzungszone den Lehrstuhl kostete) für Lob und Tadel. So erfährt der Leser, dass irgendwer der Meinung war, Vogels Rede beim BRD-Besuch Erich Honeckers 1987 sei seinerzeit »die beste« gewesen. Platz findet auch die Information, dass der Chefredakteur einer Thüringer Zeitung Vogel »mit böswilligen Kommentaren« »verfolgte«.

Perlen sind Vogels Betrachtungen zur DDR, wo er »elfmal zu Besuch« war. Dabei will er etwa festgestellt haben, dass Speisekarten in Hotels und Restaurants mit Ausnahme eines jeweils »empfohlenen« Gerichts »aus Leerbuchungen« bestanden haben. Hatten die Westdeutschen, die in den 80ern an den Wochenenden in den Restaurants grenznaher Bezirke der DDR einfielen, schon wieder alles aufgegessen? Die Speisekarte war in dieser Apokalypse aber ohnehin das geringste Problem: »In den vom Krieg zerstörten Innenstädten war der Zerfall weit fortgeschritten.«

Tatsächlich zerstört war 1988 allerdings nur Vogels Politkarriere. Er war – für die CDU ein ganz untypischer Vorgang – im Zuge einer veritablen Palastrevolte, über deren Gründe man bei Vogel wenig erfährt, als rheinland-pfälzischer CDU-Chef gestürzt worden und daraufhin als Ministerpräsident zurückgetreten. Vogel: Es gab »bundesweite Anteilnahme«.

Binnen kurzem aber war der Gestürzte, weil man auf dieser Ebene immer versorgt wird, wieder obenauf: Als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung stolperte Vogel 1989 ff. durch die Weltgeschichte, zum Beispiel in der Nacht zum 3. Oktober 1990 »allein durch das Brandenburger Tor und Unter den Linden entlang zum Kronprinzenpalais, wo die Adenauer-Stiftung ihr erstes, sehr provisorisches Büro eingerichtet hat«. Politisch hatte sich die Stiftung da allerdings schon längst »eingerichtet«: Gleich nach dem 9. November 1989 schickte sie Mitarbeiter in die DDR, und in den folgenden Monaten wurden diese Leute »in verschiedensten Funktionen und auf den unterschiedlichsten Ebenen in der sich wandelnden DDR tätig«. Das stiftungseigene Institut für Kommunalwissenschaft erarbeitete das im Juli 1990 von der Volkskammer beschlossene Ländereinführungsgesetz, verrät Vogel stolz. Er könnte offensichtlich eine ganze Menge mehr über Prozesse und Personal der Übernahme des Ostens erzählen, tut das aber nicht.

Dann begann auch für Vogel das »Abenteuer« Thüringen. Im Januar 1992 war dort CDU-Ministerpräsident Josef Duchač zurückgetreten. Warum? Er »schien überfordert« und hatte die Unterstützung der Partei verloren, behauptet Vogel. Dass sein Amtsvorgänger mit grotesken Vorwürfen einer angeblichen Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit demontiert worden war (angeschoben übrigens vom Spiegel), verschweigt er. Vogel nennt Namen von Leuten, die als Nachfolger im Gespräch waren – durchweg Westdeutsche, aber das ist genau die Ebene, die für Vogel nicht erklärungsbedürftig ist. »Tausende Westdeutsche« seien damals nach Thüringen gekommen – einfach, weil sie »helfen wollten«. Das einzige Problem, das Vogel hier sieht: Es waren auch ein paar »schwarze Schafe« dabei.

Auch bei Vogel stand »das Telefon nicht still«. Er gibt sich »mehr als zurückhaltend« und ist nach einem Anruf des Kanzlers trotzdem auf einmal – »Ich wollte helfen« – unterwegs nach Thüringen. Und da war was los. Die erste Nacht verbringt Vogel im »tristen ehemaligen Gästehaus der SED-Bezirksleitung Erfurt«. Klar ist: »Der Osten musste vom Westen lernen.« Die größte Herausforderung war der »Aufbau einer neuen Wirtschaftsordnung«. Schwierig ist das, weil »die DDR wirtschaftlich vor dem Bankrott gestanden« habe; sie war ein »in Trümmern liegendes Land«.

Als Beleg für diesen Unsinn führt Vogel bezeichnenderweise das Schürer-Papier vom Oktober 1989 an, von dem er merkwürdigerweise behauptet, dieser Quell vieler Legenden sei nach 1989 »in Vergessenheit« geraten. In dem Papier soll, schreibt Vogel, wörtlich gestanden haben, dass ein Großteil der DDR-Industrie »weitgehend Schrott« sei. Selbstverständlich stand das da nicht. Diese Stelle ist exemplarisch für Vogels erstaunliche Entschlossenheit, immerzu Früchte seiner Einbildung als Tatsachen auszugeben. Das literarische Resultat ist dann eben tatsächlich Schrott.

Es folgen Jahre des »Umbaus«, in denen Vogel denkt und lenkt – obwohl er weiter ununterbrochen von Halluzinationen geplagt wird. Ende Juli 1994 etwa registriert er bei der feierlichen Verabschiedung der letzten russischen Truppen in Weimar, dass Menschen Tränen in den Augen haben – das waren, stellt er fest, »Mitglieder der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft«. Hatte sich die SED-Kreisleitung nur verspätet?

Das Buch kippt zielsicher ins Wahnhafte. Dass die CDU die Erfurter Staatskanzlei 2014 für einen Linkspartei-Mann räumen musste, hat Vogel bis heute nicht verwunden. Die »Nachfolgepartei der SED« bleibt für ihn der Gegner. Ramelow (»lobt mich bei jeder Gelegenheit«) wolle »die Bundesrepublik verändern«, und sein Staatskanzleichef hat mal was über »gesellschaftliche Reformprojekte« geschrieben. Für die »angestrebten Veränderungen« braucht Ramelow, der Fuchs, »die Macht«: »Erst die Macht, dann die Veränderung!« Was Ramelow in zehn Jahren »verändert« hat, verrät Vogel nicht. Zum Trost hat der Schüler Dolf Sternbergers, der viel Aufhebens davon macht, dass er aus »der Wissenschaft« in die Politik kam, solche Sätze im Angebot: »Nur mit der NPD in Mainz und mit der PDS in Erfurt wollte ich nichts zu tun haben.«

Bernhard Vogel: Erst das Land. Mein Leben als Politiker in West und Ost. Herder, Freiburg 2024, 416 Seiten, 28 Euro

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Rolf R. aus Offenburg (24. Juni 2024 um 00:45 Uhr)
    Ich verstehe nicht, warum ihr wertvollen Platz in der Zeitung verschwendet, um so ein Buch zu besprechen. Es gibt doch genug Bücher, die wichtige Erkenntnisse vermitteln, damit die linke, sozialistische Bewegung wieder vorankommt. Also überlegt euch besser, was der Bewegung nützlich sein kann.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (24. Juni 2024 um 17:37 Uhr)
      Na ja, der Verriss von Schundliteratur kann ab und an aber auch sehr nützlich sein.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred G. aus Manni Guerth (24. Juni 2024 um 12:36 Uhr)
      Meine volle Zustimmung. Leider hat sich das politische Niveau der JW in den letzten Jahren in vielen Bereichen der bürgerlichen Linken angepasst.

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