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Aus: Ausgabe vom 25.06.2024, Seite 16 / Sport
Fußball-EM

Destruktionsmaschinen

Deutschland trennt sich im dritten EM-Gruppenspiel 1:1 von den Schweizern
Von Felix Bartels
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Sogar schlechter als Sané: Schiedsrichter Daniele Orsato

Die deutsche Seele scheint wieder bei ihrem Normalzustand angelangt: dem Unbehagen am Objekt des Begehrens, das sein Versprechen nicht einlösen kann. Einfacher: Man meckert übers DFB-Team. Das hatte am Sonntag ein 1:1 gegen die Schweizer Auswahl errungen, von der zumindest theoretisch gewusst wird, dass auch sie Fußball spielen kann. Der beschlagene Spielanalytiker Martin Rafelt sprach nach dem Spiel von einem »game state bias«. Und meinte damit, dass die Beurteilung einer Spielleistung oft beeinflusst ist vom Eindruck des Spielstandes. Liegt eine Mannschaft hinten, wird ein und dieselbe Spielweise deutlich negativer betrachtet.

Ein eklatantes Beispiel hierfür wäre etwa die Begegnung Spanien–Italien im zweiten Spiel der Gruppenphase. Spanien ging als Sieger hervor, und Europa wurde sich dieser Tage einig, dass diese Mannschaft bei diesem Turnier eine Klasse für sich markiert. Bei der EM 2021 hatte Spanien im Halbfinale ähnlich überlegen gegen Italien gespielt, am Ende stand allerdings eine Niederlage via Elfmeterschießen. Damals schrieben Presse und Socialmedianer vor allem über die Schwächen des spanischen Spiels und sahen eine Abwehrleistung Italiens, von der auch beim besten Willen auf dem Platz nichts zu sehen gewesen war.

Weniger drastisch verhielt es sich am Wochenende mit der deutschen Elf. Die Schweizer konnten das Spiel der Nagelsmänner erheblich stören, letztlich aber durchaus mit diesem 1:1 glücklich sein. 18:4 Torschüsse, eine Passquote von 90 Prozent bei 636 gespielten Pässen, 66 Prozent Ballbesitz, 56 Prozent gewonnene Zweikämpfe und 67 Prozent erfolgreiche Dribblings bezeugen die Feldüberlegenheit des DFB-Teams. Hinzu kommt, dass das Spiel chaotisch wirkte. Beide Mannschaften unterbanden das Spiel ihres Gegners effektiv. Gestocher und Ballverluste, Rhythmusstörungen und ratlose Pässe lassen den Eindruck eines Nichtfunktionierens entstehen, obwohl man eigentlich zwei funktionierende Defensiven am Werk sieht. Schwieriger schon ist, in einem solchen Spiel etwas über taktische Grundlinien zu sagen. Man erblickt zwei Destruktionsmaschinen und zugleich zwei Mannschaften, die ihr erdachtes Offensivspiel nicht auf den Platz zu bringen vermögen.

Die Schweizer Defensive agierte erneut in Dreierkette. Nach der schlechten Qualifikation in einer Gruppe mit ziemlich leichten Gegnern hatte Murat Yakin seine Mannschaft vor Beginn der EM mit der Umstellung auf die Dreiereihe stablisieren können. Das Ergebnis waren ein Sieg und ein Remis in der Gruppenphase. Auch gegen Deutschland stellte er seine Spieler gut ein. Frühes Pressing irritierte die eigentlich kombinationssicheren DFB-Fußballer beim Aufbauspiel, sie kamen mit der mannorientierten Zuordnung der Schweizer nicht gut zurecht. Auf der anderen Seite steht, dass die deutsche Elf dennoch Torgefahr erzeugte. Womit ich sagen will: Die Schweiz hat das Beste aus ihren Möglichkeiten gemacht, und den Deutschen gelang zu keiner Zeit, was einer ballbesitzorientierten Mannschaft gelingen muss: die ­Kontrolle über das Spiel zu erlangen. Hätten die Schweizer das zugelassen, hätten sie wahrscheinlich klar verloren.

Das Passspiel der durch die beiden aufrückenden Außenverteidiger Kimmich und Mittelstädt ergänzten Raute Gündogan-Wirtz-Musiala-Havertz machte nur gelegentlich einen guten Eindruck. Deutlich spritziger als gegen Ungarn, dafür fehlerbehafteter, hektischer. Etwas seltsam wirkte auch das Verhalten der Defensive. Im Spiel gegen den Ball ließ Andrich sich in die Viererkette zurückfallen, wodurch vor der nunmehrigen Fünferkette bespielbarer Leerraum entstand.

Mit der Einwechslung von Füllkrug reagierte Nagelsmann spät, aber noch rechtzeitig. Wenn einerseits das Zen­trum dichtgemacht ist und das ballbesitzende Team andererseits seinen Fähigkeiten auf engem Raum zum Trotz die Kontrolle über das Spiel nicht erlangt, muss man die Außenbahnen nutzen. Entsprechend fiel das späte 1:1 durch Füllkrug nach einer Hereingabe von außen. Der ebenfalls luftsichere Rüdiger hatte bereits in der 41. Minute einen Kopfball nicht richtig erwischt. (Interessantes Detail: Er köpfte den Ball als Aufsetzer, eine Technik, die Jürgen Klinsmann oft benutzt hat und durch die der Ball für den Torhüter schwerer zu berechnen ist.)

Sinnvoll wäre auch die Hereinnahme von Müller gewesen. Als beidfüßiger Spieler kann er Wirtz im linken Halbraum ersetzen, und wenn die Gegenmannschaft an der Seitenlinie diesen freien Raum gestattet, fallen seine Schwierigkeiten bei engem Spiel nicht so ins Gewicht, zudem hätte Müllers exzellentes Positionsverständnis dem deutschen Spiel in der Endphase gutgetan. Schließlich ist er der Spieler, den man bringt, wenn es darum geht, eine verunsicherte Mannschaft zu pushen. All das übrigens gilt von Sané nicht, den Nagelsmann in der 76. Minute brachte. Womit denn mein ceterum censeo auch für den dritten Spieltag abgehakt wäre.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (24. Juni 2024 um 23:03 Uhr)
    Ist hier von dem Spiel die Rede, bei dem zweiundzwanzig Millionäre einem Ball hinterherlaufen? Da könnte sich doch jeder einen eigenen Ball leisten!

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