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Aus: Ausgabe vom 27.06.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Karte im Staub

Schuldeneintreiben in Marokko: Faouzi Bensaïdis Filmkomödie »Déserts – Für eine Handvoll Dirham«
Von Holger Römers
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Die Suchenden auf der Straße nach Nirgendwo: Mehdi (Abdelhadi Taleb) und Hamid (Fehd Benchemsi)

Wenn zu Beginn von »Déserts – Für eine Handvoll Dirham« eine Straßenkarte vom Winde verweht wird, ist das in mehrfacher Hinsicht sinnbildlich zu verstehen. Es bietet zunächst einmal die implizite Erklärung, warum die Protagonisten Mehdi (Abdelhadi Taleb) und Hamid (Fehd Benchemsi) in den folgenden zwei Stunden stets etwas plan- und orientierungslos wirken. Die beiden Männer reisen im Auftrag eines in Casablanca ansässigen Inkassobüros durch die marokkanische Provinz, um dort säumige Schuldner ausfindig zu machen. Wenn sie sich endlich bis zum Haus oder bis zum Arbeitsplatz eines Kreditnehmers durchgefragt haben, um ihn zur Wiederaufnahme der Ratenzahlungen zu drängen, werden sie zumeist mit einer eigenwillig optimistischen Interpretation der Regeln des Finanzwesens konfrontiert. Das endet dann oft damit, dass die Geldeintreiber aus dem Stegreif irgendeinen Haushaltsgegenstand oder Naturalien in Besitz nehmen. Mal machen sich die beiden mit einem Teppich aus dem Staub, mal mit einer Ziege.

Das Abhandenkommen der Straßenkarte dient Faouzi Bensaïdi in einem weiteren Sinne aber auch als dramaturgisches Vorzeichen, um sich selbst von der üblichen Verpflichtung zu stringentem, zielgerichtetem Erzählen zu entbinden. Jedenfalls reiht der 1967 in Marokko geborene Filmemacher, der zu seinem sechsten Spielfilm auch das Drehbuch verfasst hat, in dessen erster Hälfte vor allem skurrile Vignetten aneinander, deren örtliche Zusammenhänge so unbestimmt bleiben wie die zeitlichen. Dabei mag man sich an das Kino des palästinensischen Israelis Elia Suleiman erinnert fühlen, in dessen jüngstem Film »Vom Gießen des Zitronenbaums« (2019) der gelegentlich auch als Schauspieler arbeitende Bensaïdi eine kleine Nebenrolle verkörpert hat.

Der mehr oder minder ­wortlose Humor, der mitunter in Slapstick umschlägt, basiert nicht zuletzt auf einem sichtbaren Widerspruch: Dass die Hauptfiguren fast durchweg im dunklen Anzug gekleidet sind, suggeriert einen Anspruch auf Professionalität, der durch die Hemdsärmeligkeit ihres Auftretens ständig untergraben wird. Dass Mehdi und Hamid kaum weniger naiv sind als die verschuldeten Hinterwälder, wird klar, wenn sie sich in der einzigen Szene, die am Firmensitz des windigen Inkassobüros angesiedelt ist, prompt weismachen lassen, dass eine Umwandlung ihres Anstellungsverhältnisses in eine Subunternehmerschaft zu ihrem Vorteil wäre. Mehdi kann indes auch die private Fassade biederer Respektabilität nur noch schwer aufrechterhalten, seit seine Ehefrau ihn mit der gemeinsamen Tochter sitzengelassen hat. Hamid muss derweil die bourgeoise Attitüde seiner Schwiegermutter-in-spe erdulden, obwohl der Vater der Verlobten sich ungefragt als versoffener Hurenbock zu erkennen gibt.

Das Ganze hat längst nicht immer den schnoddrigen Charme, den zum Beispiel eine Szene erreicht, in der Bensaïdi selbst in der Rolle eines bankrotten Kleinhändlers auftritt, dessen Kiosk um ihn herum in Stücke zerlegt wird. Der ersten Hälfte des Films hätte die Streichung der einen oder anderen Episode fraglos gutgetan. Eine gewisse Redundanz ist aber womöglich die notwendige Bedingung dafür, dass sich in der herrlich eigenwilligen zweiten Hälfte Ziellosigkeit, Abschweifung und das Gehen im Kreis als die eigentlichen Themen entpuppen können.

Dazu gehört, dass die Narration sich unvermittelt selbst verirrt, zwischen Traum und Realität gerät, nachdem Mehdi und Hamid an einer Tankstelle einem entflohenen Sträfling (Rabii Benjhaile) begegnet sind. Wenn Bensaïdi, der auch für die Montage mitverantwortlich zeichnet, erhabene Panoramen schroffer Landschaften nun um zunehmend nahe Einstellungen stummer Gesichter ergänzt, stellt sich die Frage, inwieweit der grüblerische Ausbrecher sich wirklich mit einem ebenso stumm dreinblickenden Nebenbuhler herumschlagen muss oder ob diese zwischen Gangsterballade und Western changierende Nebenhandlung ein reines Hirngespinst Mehdis ist, der seinem Kollegen an einem Lagerfeuer mit einer Geschichte die Zeit vertreibt.

Wenn schließlich noch einmal eine Landkarte im Bild erscheint, schematisch in den Wüstenstaub gekratzt, tritt indes in der namenlosen Gestalt eines nach langer Irrfahrt aus Europa abgeschobenen Migranten kurz ein moderner Odysseus auf. Deshalb besitzt es wiederum eine zauberhafte Schlüssigkeit, dass eine täglich am Webstuhl nach einem anderen Rückkehrer Ausschau haltende Frauenfigur (Hajar Graigaa) ihrerseits als Wiedergängerin der Penelope zu erkennen ist.

»Déserts – Für eine Handvoll ­Dirham«, Regie: Faouzi Bensaïdi, BRD/Marokko/Belgien/ Frankreich 2023, 125 Min., Kinostart: heute

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