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Aus: Ausgabe vom 13.07.2024, Seite 6 / Ausland
Brief aus Jerusalem

»Gaza-Nakba 2023. Das wird das Ende sein«

Brief aus Jerusalem. Israelischer Minister spricht offen von neuer »Nakba«. Rückblick auf die Geschehnisse im Dorf Lifta vor 76 Jahren
Von Helga Baumgarten, Jerusalem
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Übriggebliebene Ruinen des Dorfes Lifta

Israels Landwirtschaftsminister Avi Dichter drohte den Palästinensern in Gaza im November 2023 in einem Interview (vgl. Haaretz am 12. November) eine neue »Nakba« an: »Wir veranstalten jetzt die Gaza-­Nakba. Gaza-Nakba 2023. Das wird das Ende sein.« Damit stellte er einen direkten Bezug zur »Katastrophe« von 1948 her, als die israelische Armee und deren Vorläufer ab Ende 1947 im Verlauf der Staatsgründung etwa 750.000 Palästinenser aus ihren Dörfern und Städten vertrieben.

Vertreibung aus Lifta

Wo einst das Dorf Lifta florierte, breiten sich heute immer weiter expandierende israelische Siedlerkolonien aus, die sich verharmlosend als Vororte von Jerusalem verstehen. Für die Dorfbewohner begann alles im Januar 1948. Zionisten zündeten das Haus des Mukhtars (des Dorfältesten bzw. Bürgermeisters) an, das im oberen, neuen Teil von Lifta lag. Zwei Tage später setzten sie weitere 20 Häuser in Brand. Die Reaktion: Die Dorfbewohner zogen sich in die relative Sicherheit des alten Lifta zurück, unten im Tal, nicht an der direkten Linie Tel Aviv-Jerusalem gelegen. Inzwischen sprechen sie davon als der »ersten Vertreibung«. Die Sicherheit des alten Lifta erwies sich jedoch als trügerisch. Auch hier begannen Zionisten mit ihren Angriffen gegen die Bewohner. Einer der wenigen Überlebenden, Yaqoub Odeh, erinnert sich noch genau, wie seine Mutter die Kinder unter dem Tisch versteckte, damit sie geschützt waren.

Der Vater von Yaqub entschied wie viele Familienväter, dass seine Frau und seine Kinder nach Jerusalem ziehen sollten, ins palästinensische Zentrum, das man als sicher betrachtete. Der erste Versuch, mit einem Lastwagen, auf dem insgesamt vier verwandte Familien zusammengepfercht waren, nach Jerusalem zu gelangen scheiterte, da sie unter Beschuss gerieten. Also ging es wieder zurück nach Lifta.

Der zweite Versuch wurde zu einem endlos langen Umweg: Zuerst ging es Richtung Westen, ins Dorf Abu Ghosh, dann weiter nach Latrun. Dort wurde die Richtung gewechselt nach Osten: Beitunia und schließlich El-Bireh, die Zwillingsstadt von Ramallah. Yaqoubs Familie fand zuerst Schutz auf einer Baustelle beziehungsweise tagsüber unter einem Baum, der Schutz vor dem Wetter bot. Die Vertriebenen aus Lifta waren die ersten, die in El-Bireh/Ramallah ankamen, einige Wochen vor den großen Vertriebenen-Trecks aus Al-Lydda.

In Lifta waren nur die Männer geblieben, die mit allen verfügbaren Mittel versuchten, sich gegen dagegen zu wehren, dass das Dorf überrollt wurde. Gegen die Übermacht der Zionisten hatten sie allerdings keine Chance. Zwei Monate später wurden auch sie vertrieben und flüchteten zu ihren Familien in El-Bireh. Yaqubs Vater schloss sich Frau und Kindern an. Allerdings wurde er schwer krank: Magenprobleme und Atemschwierigkeiten, offensichtlich sowohl physisch als auch vor allem psychisch bedingt. Die Familie blieb noch ein knappes Jahr in El-Bireh und zog dann Richtung Jerusalem. Dort starb der Vater zwei Jahre später, im Jahr 1950. Die Mutter musste von nun an die Kinder alleine aufziehen.

Lifta bis 1948

Im Gespräch Anfang der Woche war es für Yaqub Odeh vor allem wichtig, deutlich zu machen, was Lifta bis zur Nakba 1948 war: in jeder Hinsicht ein reiches Dorf.

1948 wohnten dort etwa 3.000 Menschen in 550 Häusern. Sie lebten von der Landwirtschaft, vor allem von Oliven und Feigen, deren Verkauf große Gewinne einbrachte. Oliven wurden direkt verkauft bzw. zu Olivenöl verarbeitet und dann vermarktet und sogar ausgeführt. Im Dorf gab es mehrere Olivenpressen, einige davon wurden gerade jetzt wiederentdeckt. Außerdem wurden auf dem Land von Lifta Getreide und Gemüse angebaut und diverse Obstsorten. Die Landwirtschaft machte die Dorfbewohner regelrecht autark. Alles, was sie brauchten, gab es in Hülle und Fülle.

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Yaqoub Odeh, ehemaliger Bewohner von Lifta

Neben der Landwirtschaft waren es die Steinbrüche beim Dorf, die sehr hohe Einnahmen brachten. Vor 1948 gab es insgesamt sieben Betriebe, die die Steine verarbeiteten. Die Besitzer wurden sehr vermögend, und ihre Betriebe boten Arbeitsplätze für viele. Schließlich hatte Lifta riesigen Landbesitz: Ursprünglich wohl um die 30.000 Dunum (1 Dunum entspricht 1.000 Quadratmetern). Unter der britischen kolonialen Mandatsherrschaft von 1920 bis 1948 wurde schon 1923 ein beträchtlicher Teil dieses Besitzes annektiert und an das »neue Jerusalem«, heute Westjerusalem, das für die jüdischen Einwohner vorgesehen war, weitergegeben.

Viele wichtige israelische Gebäude befinden sich nun auf dem ursprünglichen Dorfgelände: die Knesset, der Campus der ursprünglichen Hebräischen Universität im heutigen Ostjerusalem, das Hadassah-Krankenhaus auf dem Mount Scopus.

Das Land von Lifta erstreckte sich also vom Mount Scopus über das heutige French Hill, große Teile vom Dorf Shufat, im Osten fast bis Ramallah und im Westen bis Kaloniya, dem heutigen Mevasseret Zion. Das noch verbliebene Land von Lifta, etwa 12.000 Dunum, wurde 1953 endgültig von Israel annektiert, nicht zuletzt um jegliche Ansprüche der vertriebenen Bewohner, vor allem aber ihre Rückkehr zu verhindern.

Kampf um die Erinnerung

Heute gibt es etwa 40.000 Vertriebene aus Lifta mit ihren Nachkommen. Die Hälfte davon lebt in Jordanien, viele in der palästinensischen Diaspora weltweit (etwa Boston und Chicago) sowie ein beträchtlicher Teil in Jerusalem und Ramallah. 1966 wurde ein erstes Treffen der Lifta-Bewohner organisiert. Seitdem gibt es aktive Gruppen von »Liftawis« in Jerusalem, in Ramallah, in Amman sowie anderen Städten Jordaniens (wie Zarqa) und den USA. In Boston gründete sich die Diasporagruppe »Voice of Lifta«. In allen Gruppen werden regelmäßig Wahlen abgehalten. Viele der Vertriebenengruppen haben Tabo-Papiere (Landbesitzurkunden), die von ihnen verwaltet werden.

Die Stadt Jerusalem hat wiederholt versucht, auf dem Gelände von Lifta eine neue Luxussiedlung zu bauen. Dagegen haben sich die Lifta-Organisationen zusammengeschlossen. Ihr Kampf dagegen war 2004 erfolgreich, teils auch wegen der Unterstützung durch linke und ökologische israelische Aktivisten.

Yaqoub Odeh macht regelmäßige Führungen für Interessierte, wo auch immer sie herkommen. Lifta muss, so sein Argument, als Zeugnis für die Nakba 1948 erhalten werden. Schließlich steht die Schule noch, die 1929 von den Bewohnern selbst gebaut und finanziert wurde. 1940 waren 300 Kinder in dieser Schule. Auch der alte Sportplatz ist von der Schnellstraße Tel Aviv-Jerusalem aus noch sichtbar. Und an erster Stelle steht der Traum, der gerade auch für Yaqoub Odeh die wichtigste Triebfeder ist: Die Rückkehr nach Lifta, wie sie der UN-Beschluss 194 aus dem Jahre 1948 vorsieht.

Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Birzeit nördlich von Ramallah im Westjordanland. In Teil drei der Reihe »Briefe aus Jerausalem« geht sie anhand der Berichte des Überlebenden Yaqoub Odeh (Abu Nasser) auf die Ereignisse von 1948 am Beispiel des Dorfes Lifta am westlichen Rand von Jerusalem ein. Von ihrem Wohnzimmer in Beit Hanina aus hat er einen direkten Blick auf den Hang, auf dem sich das palästinensische Dorf einst befand.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ralph S. aus Frankfurt am Main (15. Juli 2024 um 13:04 Uhr)
    Vielen Dank für diesen Artikel. Ich musste beim Lesen daran denken, dass dieser noch vor wenigen Jahren als begleitender Kommentar zu einer Reportage (z. B. von Peter Scholl-Latour) im öffentlich-rechtlichen Fernsehen genau so hätte gesendet werden können. Heute werden jene, die ihre »Informationen« nach wie vor ausschließlich von den »Qualitätsmedien« beziehen, mit Verdrehungen, Halbwahrheiten und Lügen gefüttert, damit sie in einem Dämmerzustand der Ahnungslosigkeit über die Realität verbleiben und Propaganda für Wirklichkeit halten. Ein Abo der jW war für mich der Schlüssel zu Informationen, mit denen ich zu den unterschiedlichsten Sachverhalten tatsächlich so informiert werde, wie ich es von seriösem Journalismus erwarte.

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