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Aus: Ausgabe vom 13.07.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Die wirkliche Zeitenwende

Von Arnold Schölzel
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Der »Tomahawk«-Marschflugkörper, der ab 2026 in der Bundesrepublik stationiert werden soll , »wird zum US-Arsenal der Erstschlagswaffen gezählt«, schreibt Gerhard Hegmann in der Welt am Freitag. Hat nichts mit Aggressivität zu tun, belehrt Chefkorrespondent Clemens Wergin auf derselben Seite. Unter der Überschrift »Zurück im Kalten Krieg« heißt es in den Unterzeilen: »Die NATO hat erkannt: Sie muss im Verteidigungsfall Russland auch angreifen können. Zur Abschreckung werden US-Mittelstreckenwaffen stationiert.« Erstschlag oder Abschreckung –einheitlich ist die Sprachregelung seit der Stationierungsankündigung am Mittwoch noch nicht.

Außerdem fehlt noch was, meint Wergin. Denn anders als beim NATO-»Doppelbeschluss« vor 45 Jahren ist von Atomwaffen keine Rede: »Die Nuklearoption ist demnach noch nicht Teil der Planungen, wahrscheinlich auch, weil das quälende Debatten in Deutschland auslösen würde, die Kanzler Olaf Scholz offenbar umgehen möchte.« Aber immerhin handele es sich jetzt schon »um einen endgültigen Abschied vom INF-Abrüstungsvertrag von 1987, der die Stationierung von nuklearwaffenfähigen Mittelstreckenwaffen verbot«. Nachdem die Russen jahrelang gegen die Regeln des Vertrages verstoßen hätten, seien die USA 2019 offiziell aus ihm ausgestiegen. Wergin: »Die von der Biden-Regierung verkündeten Aufrüstungspläne stellen nun die faktische Umsetzung dieser Austrittsentscheidung dar.« Biden vollstreckt, was Trump anschob.

Die »jahrelangen« Verstöße »der Russen« sind NATO-Propaganda. Umgekehrt: Mit dem Austritt der USA aus dem ABM-Vertrag von 1972 im Jahre 2002 erhielt die NATO-Ostexpansion ihren militärischen Sinn. Seitdem bastelte Washington in Osteuropa an Raketenbasen – angeblich gegen Geschosse aus dem Iran und der DVRK. Seit 2016 gibt es daher im rumänischen Deveselu eine US-Truppe mit angeblichen Abwehrraketen; am Mittwoch verkündete NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Washington NATO-Dienstbereitschaft für die US-Basis im polnischen Redzikowo. In bundesdeutschen Nachrichten – außer in jW – kam diese Bekanntgabe nicht vor, nur der deutschsprachige Dienst von Polskie Radio zitierte am Donnerstag einen polnischen Militärexperten, die Installation in Redzikowo habe »strategische Bedeutung für Polen und diese Region«.

Russland hatte früh darauf hingewiesen, dass die Anlagen den INF-Vertrag verletzen. Im Jahr 2020 wies Jörg Kronauer in dieser Zeitung darauf hin, dass auch westliche Experten das für plausibel hielten: »So räumte denn auch die Berliner Regierungsdenkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im März 2018 ein, die russischen Vorwürfe, es handle sich bei der Aufstellung von ›Aegis Ashore‹ mit den ›MK 41‹-Rampen um eine ›nicht vertragskonforme Dislozierung eines Systems zum Einsatz landgestützter Marschflugkörper‹, seien ›aus technischer Sicht schwer zu entkräften‹.«

Die Stationierungsankündigung vom Mittwoch ist Teil des NATO-Traums, gegen Russland eine Erstschlagskapazität zu erlangen. Das war schon 1979 treibendes Motiv. Das Handelsblatt fühlt sich dennoch am Freitag überrumpelt: »Vor allem der überraschende Beschluss, dass die USA ab dem Jahr 2026 moderne Marschflugkörper und Überschallwaffen in Deutschland stationieren wollen, ist laut dem Transatlantikexperten Marco Overhaus von der Stiftung für Wissenschaft und Politik ein Durchbruch. ›Das ist tatsächlich eine Zeitenwende‹, schrieb er bei Linked-In. ›Deutschland gestattet den USA erstmals die Stationierung landgestützter Waffensysteme, die früher vom Rüstungskontrollvertrag INF verboten waren.‹«

Das immerhin ist richtig. Scholz hat seine »Zeitenwende« an das vorgesehene Ende gebracht, das eines von allem werden kann.

Scholz hat seine »­Zeitenwende« an das vorgesehene Ende ­gebracht, das eines von allem werden kann.

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