3000 Abos für die Pressefreiheit!
Gegründet 1947 Donnerstag, 8. August 2024, Nr. 183
Die junge Welt wird von 2880 GenossInnen herausgegeben
3000 Abos für die Pressefreiheit! 3000 Abos für die Pressefreiheit!
3000 Abos für die Pressefreiheit!
Aus: Ausgabe vom 13.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Fernsehen

Die schaffen uns

Die ARD-Doku »Angela Merkel. Schicksalsjahre einer Kanzlerin« ist laut, schnell und dumm, doch trotzdem nicht ganz wertlos
Von Stefan Gärtner
11.jpg
Und dann spielen die »I’ve Got the Power«! Geht das? Darf das sein? Von unseren Fernsehgebühren? (Schloss Elmau, 2015)

Dass man sich an alles gewöhnt, ist eine existentielle Grundkonstante, weil Überlebenshilfe: Wer sich an die Eiszeit nicht gewöhnen konnte, starb.

Ganz so gnadenlos haben wir’s heute, trotz SPD und Leistungsgesellschaft, nicht mehr, denn wer sich an den formalen Irrsinn von »Angela Merkel. Schicksalsjahre einer Kanzlerin« nicht gewöhnen will, an das Inferno aus Schnellschnitt, Splitscreen und einem Score, der mit je saudumm »passender« Popmusik – Kate Bush: »Running up That Hill«! Rolling Stones: »Angie«!! Tracy Chapman: »Talkin’ ’Bout a Revolution« (’89)!!! – die Ruhe zur Besinnung keinesfalls zu gewähren beabsichtigt, der kann abschalten. Und zwar nach fünf Minuten und in dem sicheren Gefühl, für derlei Fernsehunterhaltung, die sich verzweifelt an die sogenannten Sehgewohnheiten der Generation Tik Tok heranlärmt, gottlob dann doch zu alt zu sein. Denn dass etwas schlicht unerträglich sei, ist, falls es sich nicht eben um eine Kreuzigung handelt, zwar meistens hergeholt und effektbewusst übertrieben; aber Merkel geht in die Politik, und die Musik kommentiert mit Snap, »I’ve Got the Power«? Geht das? Darf das sein? Von meinen, unseren Fernsehgebühren?

Dass mit Angela Merkel, die am Mittwoch 70 wird, die Zeit des männlichen »Gegockels« fürs erste vorbei gewesen und der sturen Macht pragmatischer Nüchternheit gewichen sei, erfahren wir und glauben es gern, doch indessen gockelt der Film selbst, wie um die spröde Kanzlerin per Gegenteil ins Recht zu setzen, aufmerksamkeitsdefizitär drauflos und kräht dabei Sätze ins Land, die so leer sind wie eine Kaufhalle in der Westpropaganda: »Sie ist präzise, auf den Punkt, effizient«, und man hält’s nicht aus, nein wirklich nicht; beziehungsweise eben doch, fünf Mediatheksfolgen und einhundertfünfzig Minuten lang, wegen des journalistischen Ethos und weil sich der Mensch halt an alles gewöhnt, wenn er muss; aber eben auch, weil die Geschichte unterm entgrenzt debilen Krach und den penetrant idiotischen Visualmätzchen einfach zu gut ist. Denn, und da hat der Film, den ein Tim Sievers auch in der Höhe zu verantworten hat, ja ausnahmsweise recht: Die ostdeutsche Pfarrerstochter mit FDJ-Vergangenheit, die im rheinischen Männerclub CDU und als »Kohls Mädchen« alle überholt und nur neun Tage kürzer regiert als ihr Ziehvater Kohl, den über die Klinge springen zu lassen sie in der Spendenaffäre (Soundtrack: Coolio mit »Gangsta’s Paradise«!!!!) genug Machtinstinkt hat, das ist, wie immer man zu Politik und Person steht, erzählenswert. Fukushima, »Wir schaffen das«, Putins Hund, Nord Stream, und Neues gibt es sogar auch: Nach ihrem Wahltriumph von 2013 weigert sich Merkel rundheraus, feiernd ein Deutschlandfähnchen in die Hand zu nehmen, und dass sich die »Alternative für Deutschland«, noch unterm moderaten Finanzprofessor Lucke, direkt auf Merkels ja auch nicht sehr demokratisches Mantra von der »Alternativlosigkeit« beziehen konnte, will bedacht sein. »Sie kennen mich«, warb die Kanzlerin im Wahlkampf warm, wozu Marina Weisband, Ex-Piratin und Psychologin, vorwurfsvoll einfällt: »Veränderung wird als Zumutung geframed!« Wozu wiederum allen, die sich an mehr erinnern als an das Abendbrot von gestern, einfallen kann, dass Veränderungen seit Schröder 1998 ff. auch regelmäßig Zumutungen waren. Doch Hartzer sind hier nicht die Zielgruppe, und bedeutsamer findet die junge Klimaaktivistin Carla Reemstma denn auch die verlorenen Jahre beim Klimaschutz; als hätte Merkel, als Kanzlerin qua Amt die Hüterin des Kapitalinteresses und darüber hinaus Inkarnation von Politik als sich autopoietisch Selbstvollziehendem, einfach CO2-Neutralität verordnen können. Nein, politische Ökonomie wird hier eher aus Versehen betrieben, etwa wenn die Podcasterin, Schauspielerin und Spiegel-Kolumnistin Samira El Ouassil, die möglicherweise viel gescheiter ist, als ihre mau formulierten Kolumnen vermuten lassen, Merkel als »Verwaltungskanzlerin« bezeichnet.

Einmal freilich, »Wir schaffen das«, war ihre Politik tatsächlich eine persönliche, falls man nicht so weit gehen will, das höhere (oder niedere) Interesse an einer neuen Reservearmee zu unterstellen. Dass Merkels legendäres Versprechen nicht alle »abgeholt« hätte, kritisiert der tätowiert durch die Muttersprache rudernde Youtuber LeFloid, der Merkel mal interviewen durfte, wie es überhaupt so ist, dass Thomas de Maizière und Annegret Kramp-Karrenbauer nicht nur im direkten Vergleich als reflektierte Sympathen erscheinen. Wenn »AKK« ausführt, sie bezweifle, dass Roland Koch nach der wider Erwarten nur knapp gewonnenen Wahl 2005 nicht den Königinnenmord erwogen habe, und de Maizière uns steckt, an Merkels Kabinettstisch hätten Frauen zum ersten Mal überhaupt ausreden dürfen, dann beschwert das Gewicht der Zeitgeschichte das blöde, ja »sehenswerte« (Spiegel.de) Remmidemmi, dem sich die »Schicksalsjahre« in spektakulärer Gegenwärtigkeit verschrieben haben. Form als höchster Inhalt? Hier stimmt es gleichsam andersrum.

Nach Schröders Vertrauensfrage 2005 will der ARD-Mann Thomas Roth von der noch nicht ganz so großen Vorsitzenden wissen, ob sie denn nun kandidiere, und die weicht freundlich aus: Man warte jetzt mal ab, »und dann werden wir mit einem Kanzlerkandidaten in die Wahl ziehen«. Roth: »Oder einer Kandidatin?« Merkel: »Ich hab das jetzt mal geschlechtsneutral formuliert.« Lange her, in jeder Beziehung, und für solche Fundstücke mag es sich dann lohnen, das alles durchzustehn. Unser Tip: Die erste Folge weglassen. Die ist die schlimmste.

»Angela Merkel. Schicksalsjahre einer Kanzlerin«, ARD-Mediathek, fünf Folgen je 33 Min., 90minütiger Zusammenschnitt, Das Erste, Montag, 22.30 Uhr

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren. Denn nicht allen lernen die junge Welt kennen, da durch die Beobachtung die Werbung eingeschränkt wird.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Mehr aus: Feuilleton