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Aus: Ausgabe vom 17.07.2024, Seite 1 / Titel
Ukraine-Krieg

Ohne Moskau kein Frieden

Ukrainischer Präsident will Russland zu Verhandlungen einladen. EU boykottiert Ungarn wegen Vermittlung im Krieg
Von Arnold Schölzel
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Fängt langsam an, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen: Präsident Wolodimir Selenskij am Montag in Kiew

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat erstmals Bereitschaft für eine Teilnahme Russlands an einer Ukraine-Friedenskonferenz gezeigt, ohne auf einem Abzug russischer Truppen zu bestehen. Er sagte am Montag – dem »Tag der ukrainischen Staatlichkeit«, an dem an die Christianisierung der Kiewer Rus im Jahr 988 erinnert wird – auf einer Pressekonferenz in Kiew: »Ich glaube, dass russische Vertreter an dem zweiten Gipfel teilnehmen sollten.«

Am 15. und 16. Juni hatte in der Schweiz eine Konferenz zum Ukraine-Krieg stattgefunden. Selenskij erklärte nun: »Ich habe die Aufgabe gestellt, dass wir im November einen völlig fertigen Plan haben. Wenn der Plan fertig ist, dann wird auch alles für den zweiten Gipfel bereit sein.« Bis dahin sollten vorbereitende Verhandlungen in Katar, in der Türkei in diesem Sommer und im September in Kanada stattfinden. Die USA unterstützten den Vorschlag noch am selben Tag. Der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller, sagte in Washington vor Journalisten zu der Frage, ob die USA die Einladung Russlands gutheißen: »Es ist an der Ukraine, zu entscheiden, wann und wie und in welchem Zustand sie diplomatische Verhandlungen aufnimmt. Wir unterstützen die ukrainische Regierung.«

Die russische Führung reagierte am Dienstag unterschiedlich. Der Pressesprecher des Präsidialamtes, Dmitri Peskow, erklärte auf Telegram: »Man muss erst einmal verstehen, was er (Selenskij) damit meint.« Der erste Friedensgipfel sei »überhaupt kein Friedensgipfel« gewesen. Gegenüber TASS meinte der Abteilungsleiter im russischen Außenministerium, Alexej Polischtschuk, alle Aussagen Kiews über seine Bereitschaft, den Konflikt mit politischen und diplomatischen Methoden zu lösen, seien leere Worte und »Betrug«, solange Kiew per Dekret Verhandlungen mit Russland verbiete. Hinter der »pseudofriedensliebenden Rhetorik« und den Aussagen über Verhandlungsbereitschaft mit Russland stecke der Wunsch, »die Sympathie der Länder des globalen Südens zu gewinnen und sie in das antirussische westliche Lager zu locken«.

Ebenfalls am Montag veröffentlichte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán in Bild Auszüge aus einem Brief an den Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, in dem er über seine Gespräche mit Selenskij, Wladimir Putin, Xi Jinping und Donald Trump berichtete. Laut Bild fasste Orbán die Ergebnisse in zehn Punkten zusammen und schrieb: »Es ist allgemein zu beobachten, dass sich die Intensität des militärischen Konflikts in naher Zukunft radikal verschärfen wird.« Konkret forderte er demnach Gespräche mit China über eine Friedenskonferenz, die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Russland und eine »politische Offensive« gegenüber dem globalen Süden, dessen »Wertschätzung wir in bezug auf unsere Haltung zum Krieg in der Ukraine« verloren hätten. Zu Trump schreibe er: »Ich kann (…) sicher sagen, dass er unmittelbar nach seinem Wahlsieg nicht bis zu seiner Amtseinführung warten wird, sondern sofort bereit sein wird, als Friedensvermittler zu agieren. Er hat detaillierte und fundierte Pläne dafür.« EU-Kommissionspräsidentin Ursula ordnete fast zeitgleich mit der Veröffentlichung einen Boykott Ungarns an: Zu Treffen dort sollen keine EU-Kommissare, sondern nur Beamte reisen. Von der Leyen verzichtet zudem auf die übliche Reise der EU-Spitzen in das Land der jeweiligen Präsidentschaft. Ungarn reagierte mit Empörung.

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  • Leserbrief von Sven Harmgart aus Bernau bei Berlin (17. Juli 2024 um 13:50 Uhr)
    Lesen Sie bitte, was eine Vertreterin der RAND-Corporation in Bezug auf die westliche Geostrategie unter folgendem Titel äußert: »The United States, NATO, and Geopolitical Strategies: Q&A with Ann Marie Dailey« (URL: https://www.rand.org/pubs/commentary/2024/07/the-united-states-nato-and-geopolitical-strategies.html). Nachdem man das gelesen und in der vollen Konsequenz begriffen hat, weiß man, was von vermeintlichen Verhandlungsangeboten von westlicher Seite zu halten ist.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Rainer Erich Kral (17. Juli 2024 um 09:20 Uhr)
    Ich kann die Reaktionen aus Moskau verstehen. Verhandlungen ohne klare Agenda, welche die Sicherheitsinteressen Russlands, die Anerkennung der neuen russischen Gebiete, die Entmilitarisierung der Ukraine und deren Verzicht, der NATO beizutreten, ergeben keinen Sinn.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (16. Juli 2024 um 21:28 Uhr)
    Selenskij, der ehemalige Komiker, ist so hochintelligent, dass ihm nach zweieinhalb Jahren Krieg langsam dämmert, dass es ohne Russland, das zwanzig Prozent seines Landes eingenommen hat, keinen Frieden geben kann. Dass diese Aussage gerade im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Christianisierung der Kiewer Rus im Jahr 988 gemacht wurde, suggeriert weltweit für die Ungebildeten, dass die heutige Ukraine mit diesem historischen Wendepunkt in Osteuropa etwas zu tun hätte. Diese Verknüpfung ist reine Propaganda! Betrachten wir die Fakten, so zeigt sich Folgendes: Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ist kurzfristig ebenso wenig ein Thema wie eine EU-Mitgliedschaft. Diese Möglichkeiten können erst nach einem Frieden erneut ausgelotet und überhaupt in Erwägung gezogen werden. Wie ein Frieden aussehen könnte, ist heute überhaupt nicht abzuschätzen, weil die Vorstellungen der Kontrahenten so weit auseinander liegen. Darüber hinaus ist kaum einzuschätzen, wie und von wem gegenseitige Garantien gewährleistet werden könnten. Große Erwartungen können wir nicht auf die Wiederwahl Trumps setzen, weil er eher ein Geschäftsmann als ein Diplomat ist und sich mehr mit den USA und deren Nahostverbündeten Israel befasst als mit der Ukraine. Wenn ich noch eine persönliche Meinung äußern darf: Ich glaube nicht, dass Selenskij die für November geplante Friedenskonferenz als ukrainischer Präsident erleben wird.

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