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Aus: Ausgabe vom 17.07.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Politisch Verfolgte

Erdoğans Erfüllungsgehilfen

Deutsche Strafverfolgung gegen politisch aktive Kurden weitet sich auf andere EU-Staaten aus. Nach Auslieferung drohen Haftstrafen
Von Elmar Millich
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Demonstration gegen die Kriminalisierung politischer Arbeit von Kurdinnen und Kurden (Berlin, 18.11.2023)

Erdoğans langer Arm: Seit etwa zwei Jahren weitet sich die Strafverfolgung der deutschen Justizbehörden gegen politisch aktive Kurden zunehmend auf das europäische Ausland aus. Grundlage bildet der 2004 in Kraft getretene Europäische Haftbefehl.

Seitdem Schweden NATO-Mitglied ist, hat sich auch dort die Lage für Kurden verschärft: Die Auslieferung des dort lebenden kurdischen Aktivisten Ferit Çelik kann als eine direkte Folge der Gesetzesverschärfungen in Schweden gegen die kurdische Opposition als Konzession an die Türkei für deren Einwilligung zum NATO-Beitritt Schwedens im März dieses Jahres gesehen werden. Waren bislang dort nur direkte Beteiligungen an terroristischen Aktionen strafbar, orientiert sich die neue Gesetzgebung an den entsprechenden deutschen Strafrechtsparagraphen. Der 36jährige Çelik war Ende Februar 2024 aufgrund eines vom Ermittlungsrichter am Oberlandesgericht Koblenz ausgestellten Europäischen Haftbefehls in Schweden festgenommen und im Juni an Deutschland ausgeliefert worden.

Seit 2011 findet der 2002 eingeführte Strafrechtsparagraph 129 b – Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland – auch Anwendung gegen politische Aktivisten aus der kurdischen Befreiungsbewegung, denen Mitgliedschaft in der in Deutschland seit 1993 verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen wird. Aus Sicht der Bundesanwaltschaft und des Bundeskriminalamts verfügt die PKK über regionale Strukturen, die aus Gebiets-, Regional- und Raumverantwortlichen bestehen, welche die Weisungen der PKK-Führung in Deutschland umsetzen. Konkrete Straftaten werden den von der Kriminalisierung Betroffenen in der Regel nicht vorgeworfen, sondern an sich legale politische Aktivitäten wie das Organisieren von Demonstrationen, Veranstaltungen oder Busfahrten.

Am Montag wurde bekannt, dass die spanische Polizei ein mutmaßliches PKK-Mitglied auf Mallorca festgenommen hat – auch auf BRD-Gesuch. Der Mann soll schon seit vergangener Woche im Gefängnis sitzen, wie die Polizei mitteilte. Ob er an die BRD ausgeliefert wird, soll nun ein Gericht entscheiden.

Gülhatun Kara, Aktivistin der Kurdischen Frauenbewegung in Europa (TJK-E), wurde im Juni aufgrund eines deutschen Auslieferungsgesuchs in Frankreich festgenommen. Die 1965 in der Türkei geborene Kurdin engagiert sich seit den 1990er Jahren in der Frauenbewegung und ist in Europa durch viele öffentliche Auftritte bekannt.

Der Journalist Serdar Karakoç wurde im Mai in den Niederlanden festgenommen – ebenfalls auf Betreiben der deutschen Regierung. Gegen ihn werden Ermittlungen nach Paragraph 129 b des deutschen Strafgesetzbuches geführt. Mitte Juni wurde er nach einem Haftprüfungstermin gegen eine Kaution von 5.000 Euro vorläufig unter Auflagen freigelassen.

Bereits im Januar 2023 erfolgten Auslieferungen von Sabri Çimen aus Frankreich und im März 2023 von Mehmet Çakas aus Italien nach Deutschland. Çimen wurde dort mittlerweile zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren, Çakas zu zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Die meiste mediale Aufmerksamkeit findet der Prozess gegen Kenan Ayaz vor dem Oberlandesgericht Hamburg: Ayaz wurde Mitte März 2023 in Zypern ebenfalls auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls festgenommen und im Juni 2023 nach Deutschland ausgeliefert.

Gegen die Anwendung des Europäischen Haftbefehls gegen politisch aktive Kurden gibt es Kritik von juristischer Seite. In ihrem Schlussplädoyer kritisierte Antonia von der Behrens, Verteidigerin von Ayaz, »es gebe keinerlei erkennbares innenpolitisches Interesse daran, warum es Deutschland darauf anlegen sollte, sich aus ganz Europa kurdische Menschen – anerkannte Flüchtlinge, Journalisten, Menschen wie Herr Ayaz, die massivste Verfolgung durch die Türkei erlitten haben – zusammenzuklauben, um sie in Deutschland vor Gericht zu stellen und auf diese Verfahren Staatsschutzressourcen zu verschwenden«. Dahinter könne nur ein außenpolitisches Interesse stehen.

Beachtenswert ist die Auslieferungsbedingung der schwedischen Behörden, dass die Haftstrafe gegen Çelik nach der Verurteilung in Deutschland in Schweden vollstreckt werden soll. Eine entsprechende Bestimmung gab es bereits von den zyprischen Behörden im Fall von Ayaz.

Welche konkreten Folgen die sich abzeichnende neue Praxis für die Betroffenen hat, die Haft nach der Verurteilung durch deutsche Gerichte in den Auslieferungsländern zu vollstrecken, ist noch unklar. Möglicherweise zeigt sich als Hintergrund dieser Auflagen ein Unmut in anderen europäischen Ländern, sich über den Umweg des durch deutsche Behörden ausgestellten Europäischen Haftbefehls zum Erfüllungsgehilfen des Erdoğan-Regimes gegen die kurdische Opposition machen zu müssen.

Hintergrund: Mysteriöse Reise

Hintergrund für die vermehrten Auslieferungsanträge bildet möglicherweise eine Auslandsreise des damaligen Generalbundesanwalts Peter Frank vor zwei Jahren in die Türkei. Im Juli 2022 reiste er auf Einladung seines türkischen Amtskollegen nach Ankara und Istanbul. In diesem Rahmen wurde der politische Beamte entgegen protokollarischen Gepflogenheiten nicht nur vom dortigen obersten Ankläger, sondern auch vom türkischen Staatspräsidenten Recep T. Erdoğan offiziell empfangen.

Das Treffen war von offizieller Seite nicht angekündigt worden und wurde durch die Frankfurter Rundschau auf Grundlage der Berichterstattung türkischer Medien aufgegriffen. Bis heute ist die Bundesregierung nicht bereit – weder auf Anfragen von Medien noch auf parlamentarische Anfragen der Partei Die Linke –, über den Inhalt dieser Gespräche über Allgemeinplätze hinaus Auskunft zu geben. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass das Vorgehen der deutschen Justiz gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Mittelpunkt der Gespräche stand, und hier besonders die Anwendung des Paragraphen 129 b StGB (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland), da diese in die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft bzw. der Generalstaatsanwaltschaften der Länder fällt.

Der Besuch des Generalbundesanwalts erfolgte zu einem Zeitpunkt, da Präsident Erdoğan als Preis für die NATO-Mitgliedschaft von Schweden und Finnland eine verschärfte strafrechtliche Verfolgung von angeblichen PKK-Mitgliedern vor allem in Schweden, aber auch von den anderen NATO-Staaten, forderte.

Mittlerweile wurde Peter Frank im November vergangenen Jahres zum Richter am Bundesverfassungsgericht befördert. (em)

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