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Aus: Ausgabe vom 17.07.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Politisch Verfolgte

Entfesseltes Strafmaß

Hamburg: Staatsanwaltschaft fordert viereinhalb Jahre Haft für kurdischen Aktivisten. Solidaritätsbekundungen aus Zypern
Von Elmar Millich
DOGAN-ARRIVAL.JPG
Recep Tayyip Erdoğan (l.) und Olaf Scholz in Berlin (17.11.2023)

Auf internationales Interesse stößt das seit November vergangenen Jahres laufende Verfahren gegen den kurdischen Aktivisten Kenan Ayaz unter dem Vorwurf der PKK-Mitgliedschaft vor dem Oberlandesgericht (OLG) Hamburg. Neben den deutschen Strafverteidigern Antonia von der Behrens und Stephan Kuhn nimmt auch der zyprische Anwalt Efstathios C. Efstathiou an den Verhandlungen teil, der den Angeklagten schon bei seinem vorangegangenen Auslieferungsverfahren in Zypern vertreten hat. Ayaz war im März 2023 in Zypern auf Antrag der deutschen Justiz festgenommen und im darauffolgenden Juni nach Deutschland ausgeliefert worden. Neben der Auflage, dass Deutschland den Angeklagten nicht an die Türkei ausliefern dürfe, wurde die Auslieferung auch an die Bedingung geknüpft, dass Ayaz seine Strafe nach der Verurteilung in Deutschland in Zypern verbüßen darf.

Aufgrund der zyprischen Geschichte wird die Rolle der Türkei als internationaler Akteur deutlich kritischer gesehen, und schon das Auslieferungsverfahren in Zypern stieß daher auf großes mediales Interesse und wurde von Protesten vor Ort begleitet. Auch während des laufenden Prozesses in Hamburg fanden sich immer wieder zyprische Politiker im Zuschauerraum ein. Von deutscher Seite war das Öffentlichkeitsinteresse im Gerichtssaal groß, und der Verlauf des Verfahrens wurde über die Internetseite kenanwatch.org verbreitet.

In diesem Verfahren wurde auch ersichtlich, welche Bedeutung die Verfahren gegen angebliche PKK-Mitglieder für die deutsch-türkischen Beziehungen haben. Die FAZ zitierte den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan im November vergangenen Jahres anlässlich eines Besuchs in Berlin: Der Besuch in der deutschen Hauptstadt habe »ein neues Kapitel unserer tiefgreifenden Beziehungen eröffnet«, sagte Erdoğan. Er zeigte sich erfreut über einen Strafprozess vor dem OLG Hamburg gegen einen mutmaßlichen Funktionär der »kurdischen Terrorgruppe PKK«.

Ansonsten unterschied sich dieses Verfahren nicht von der eingespielten Vorgehensweise der Oberlandesgerichte in Verfahren gegen angebliche PKK-Mitglieder nach Paragraph 129 b StGB (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland). Gegenstand waren keine dem Angeklagten vorgeworfenen individuellen Straftaten, sondern an sich legale politische Organisationstätigkeiten. Im Mittelpunkt standen Protokolle von abgehörten Telefongesprächen mit fragwürdigen Interpretationen zu Lasten des Angeklagten und Einschätzungen des deutschen Inlandsgeheimdienstes (»Verfassungsschutz«) auf der Grundlage von anonym bleibenden Quellen. Auch wurde das Rederecht des Angeklagten durch die Vorsitzende Richterin Petra Wende-Spohrs laut Angaben der Verteidigung mehrfach unzulässig eingeschränkt.

Ende Juni hielt die Staatsanwaltschaft ihr Plädoyer und forderte eine ungewöhnlich hohe Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren. In ihrem Schlussplädoyer nannte die Verteidigung dieses Strafmaß völlig unverständlich für eine Person wie Ayaz, der Verfolgung ausgesetzt und viele Jahre und mehrfach unschuldig in der Türkei inhaftiert war. Zudem werde ihm keine einzige Gewalttat vorgeworfen, und er sei auch nicht vorbestraft. Selbst bei einer Unterstellung des Anklagevorwurfs wäre der Strafrahmen völlig unverhältnismäßig. Zum Abschluss ihres Plädoyers forderte die Verteidigung Freispruch. Das Urteil wird voraussichtlich Ende Juli gesprochen.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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