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Aus: Ausgabe vom 17.07.2024, Seite 4 / Inland
Gesundheitspolitik

Unter Aufsicht

Ärztliche Zwangsmaßnahmen: Bundesverfassungsgericht berät zu neuer Gesetzgebung
Von Kristian Stemmler
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»Grundrechtssensibler Bereich«: Bett mit Fixiergurten in einer psychiatrischen Klinik

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe befasst sich seit Dienstag mit einem eher speziellen, aber ethisch komplexen Thema. Es geht um ärztliche Zwangsmaßnahmen, etwa die Verabreichung von Medikamenten oder das Blutabnehmen gegen den Willen der Betroffenen. Bei betreuten Patienten mit psychischen Erkrankungen oder einer geistigen Behinderung sind diese als Ultima ratio erlaubt, dürfen aber nach geltender Rechtslage nur in einer Klinik durchgeführt werden, nicht in Pflegeheimen oder zu Hause. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich mit dieser Regelung aus Anlass eines Revisionsverfahrens befasst und hält sie für verfassungswidrig. Deshalb hat der BGH den Fall dem Verfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt. Ein Urteil wird in einigen Monaten erwartet.

Gerichtspräsident Stephan Harbarth sagte am Dienstag zu Beginn der Verhandlung, das Thema betreffe einen der »grundrechtssensibelsten Bereiche des Erwachsenenschutzes«. Einerseits müsse ein angemessener Schutz der Betreuten sichergestellt sein, andererseits dürfe aber nicht unverhältnismäßig in ihre Freiheitsrechte eingegriffen werden. In diesem Spannungsfeld bewege sich auch die gesetzgeberische Entscheidung, »an welchem Ort – oder an welchen Orten – ärztliche Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden können«.

In dem konkreten Fall geht es laut BGH um eine Frau aus Nordrhein-Westfalen, die unter anderem an paranoider Schizophrenie leidet. Sie wohnt in einem Wohnverbund und wird regelmäßig in einem nahegelegenen Krankenhaus zwangsbehandelt. 2022 hatte ihr Betreuer beantragt, der Frau ein Medikament auf der Station des Wohnverbundes zu verabreichen. Er argumentierte, der Transport in die Klinik sei manchmal nur möglich gewesen, indem man die Patientin fixierte. Dies führe bei ihr regelmäßig zu einer Retraumatisierung. Das Amtsgericht Lippstadt lehnte die »stationsäquivalente Zwangsbehandlung« in der Einrichtung ab. Das Landgericht Paderborn wies die Beschwerde des Betreuers zurück, der Fall landete beim BGH.

Der Erste Senat des Verfassungsgerichts befragte am Dienstag Fachleute zu dem Thema, so Thomas Pollmächer von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Er machte deutlich, dass ein Transport ins Krankenhaus eine erhebliche Belastung für die Betroffenen bedeuten könne. Allein die Fahrt dauere manchmal 20 bis 30 Minuten. Bei Fixierungen könnten Menschen verletzt werden, so der Experte. Das könne bei einem Transport schwerer sein als bei einer kurzfristigen Fixierung etwa zur Medikamentengabe zu Hause.

Ruth Schröder vom Bundesjustizministerium erklärte, die Bundesregierung wolle die bestehende Regelung beibehalten. Es sei nicht möglich, Ausnahmen im Gesetz zu regeln, ohne dass Tür und Tor für Zwangsmaßnahmen geöffnet würden. Ein kleines Loch in der Schutzmauer könne einen Dammbruch auslösen, so Schröder. Gerade in das private Umfeld der Menschen sollten Zwangsmaßnahmen aber nicht eingreifen. Diese Position unterstützen auch andere Fachleute.

Dagegen sprach sich Kay Lütgens vom »Bundesverband der Berufsbetreuer*innen« für Ausnahmen in Einzelfällen aus. Ulrich Langenberg von der Bundesärztekammer machte deutlich, wie individuell unterschiedlich sich Behandlungsorte und -maßnahmen auf Betroffene auswirken können. Belaste es den einen, wenn in den eigenen vier Wänden Zwang gegen ihn ausgeübt wird, werde ein anderer traumatisiert, wenn er aus dem vertrauten Umfeld gerissen wird, erklärte Langenbach.

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