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Aus: Ausgabe vom 17.07.2024, Seite 12 / Thema
Verfassungsschutz

Problemfall der Demokratie

Erfahrungen mit dem bundesdeutschen Inlandsgeheimdienst, seinem unkontrollierbaren V-Leute-System und seiner Skandalgeschichte (Teil 1)
Von Rolf Gössner
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Behörde für Gesinnungskontrolle: Das Bundesamt für Verfassungsschutz am Hauptsitz in Köln-Chorweiler

Prolog in eigener Sache: Genaugenommen müsste ich »befangen« sein, was das Thema »Verfassungsschutz« (VS) anbelangt. Schließlich »verbindet« mich mit diesem Inlandsgeheimdienst skandalöserweise eine über 50jährige Vergangenheit. Das Bundesamt für VS hatte mich vier Jahrzehnte lang unter geheimdienstliche Dauerbeobachtung gestellt, die das Bundesverwaltungsgericht nach 15jährigem Gerichtsverfahren durch alle Instanzen 2020 rechtskräftig für grundrechtswidrig erklärte.

Parallel zu der illegalen Langzeitbe­obachtung habe ich meinerseits drei Jahrzehnte über den VS, seine Arbeit und Skandale recherchiert und publiziert – eine aufwendige Aufklärungsarbeit mit großen Herausforderungen und Risiken, da der Informanten- und Quellenschutz unter Beobachtungsbedingungen kaum noch zu gewährleisten war.

Nun könnte es passieren, dass der folgende Beitrag und vor allem seine Veröffentlichung in der jungen Welt mich erneut ins Visier des VS rücken – wegen »nachdrücklicher Unterstützung« einer als »gesichert linksextremistisch« eingestuften Tageszeitung; und womöglich auch inhaltlich wegen »verfassungsschutzrelevanter Delegitimierung« des VS als »Sicherheitsorgan« des Staates. Nun ja, ich gehe das Risiko ein, bevor die Schere im Kopf obsiegt … und wünsche allseits erkenntnisreiche Lektüre, besonders auch in den geheimdienstlichen Amtsstuben der Nation.

Der bundesdeutsche Inlandsgeheimdienst »Verfassungsschutz« befindet sich trotz seines notorisch schlechten Images seit geraumer Zeit wieder im politischen und massenmedialen Aufwind – vor allem wegen seiner verstärkten Fokussierung auf »Rechtsextremismus«, auf AfD und Co. Denn nun trifft es ja endlich die »Richtigen«, wie auch angeblich mit dem neuen, schwer eingrenzbaren Beobachtungsbereich der »verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates«. Doch was davon wirklich zu halten ist und ob damit die erfahrungsgesättigte Kritik an diesem Geheimdienst etwa obsolet geworden ist, davon handelt dieser Beitrag.

Tarnname »Verfassungsschutz«

Nach herrschender Auffassung wird die Bundesrepublik als »wehrhafte Demokratie« definiert. Um die inneren Feinde der »freiheitlichen demokratischen Grundordnung« frühzeitig aufzuspüren, hat sich Westdeutschland – neben anderen Sicherheitsorganen wie polizeilichem Staatsschutz, Bundesnachrichtendienst (BND) als Auslandsgeheimdienst, Militärischem Abschirmdienst (MAD) – gleich zu Beginn der 1950er Jahre einen Inlandsgeheimdienst zugelegt: den sogenannten Verfassungsschutz. Genau genommen lei­stet sich die Bundesrepublik aber nicht nur drei, sondern insgesamt 19 Geheimdienste, denn allein der VS gliedert sich in das Bundesamt und (seit 1990) in 16 Landesbehörden.

Die VS-Behörden sind Institutionen, die offen oder verdeckt Informationen vor allem über »extremistische« und damit »verfassungsfeindliche« Bestrebungen sammeln und auswerten. Als sogenannte Frühwarnsysteme sollen sie Regierungen und Parlamente darüber frühzeitig informieren, in gewissem Maße auch die Öffentlichkeit. »Verfassungsschutz«, das hört sich zunächst ganz gut und sinnvoll an: nach Schutz von Verfassung, Grundrechten und Demokratie. Doch strenggenommen handelt es sich um einen irreführenden Tarnnamen, hinter dem ideologisch geprägte Regierungsgeheimdienste stecken mit geheimen Strukturen, nachrichtendienstlichen Mitteln und Methoden und der Lizenz zu Ausforschung, Infil­tration, Manipulation und Desinformation. Methoden, die gemeinhin als »anrüchig« gelten und die sich trotz spezieller Kontrollmechanismen wirksamer rechtsstaatlich-demo­kratischer Kon­trolle weitgehend entziehen.

Fast könnte man auf die verschwörerisch anmutende Idee kommen, dieser »Etikettenschwindel« sei bewusst betrieben worden, um mit dem Tarn- oder Decknamen »Verfassungsschutz« dessen Geheimdienstcharakter und nachrichtendienstliche Mittel und Methoden zu verschleiern, die er von Gesetzes wegen nicht nur zur Spionageabwehr, sondern auch gegen mutmaßliche »Ex­tremi­sten« oder angebliche »Verfassungsfeinde« anwenden darf – Begriffe übrigens, für die es keine Legaldefinition gibt. Mit verdeckten Mitarbeitern, V-Leuten, Informanten und technischen Instrumenten für Observationen, Lausch- und Spähangriffe kann er unter gewissen Voraussetzungen vollkommen legale, aber politisch verdächtige Gruppen und Parteien infiltrieren und ausforschen, aber auch nichtorganisierte Individuen, und zwar weit im Vorfeld eines möglichen Verdachts oder einer messbaren Gefahr.

Dabei betreibt er im wesentlichen, und das ist sein Markenkern, ideologische Gesinnungskontrolle und beansprucht Definitionsmacht hinsichtlich der Frage, was hierzulande als »ex­tremistisch« im Sinne der (wissenschaftlich) umstrittenen Extremismustheorie zu gelten hat. Insoweit bestimmt dieser politische Geheimdienst faktisch auch über die Grenzen der Meinungsfreiheit und übt wirklichkeits­mächtige Sprachherrschaft aus – mit weitreichenden Folgen für die Betroffenen: Seine Stigmatisierungen können dazu führen, dass die des »Extremismus« und damit der »Verfassungsfeindlichkeit« verdächtigten Parteien, Gruppen und Personen aus dem Kreis der »Mehrheitsdemokraten« exkommuniziert und aus dem demokratischen Diskurs ausgegrenzt werden – obwohl dies nicht zu seinen legalen Aufgaben gehört. Einen solchen Inlandsgeheimdienst mit der Lizenz zur Gesinnungskontrolle und »hoheitlichen Verrufserklärung«, wie der Politologe Jürgen Seifert die stigmatisierenden Verdikte in den VS-Berichten benennt, gibt es in anderen liberalen Demokratien Westeuropas nicht.

Waffe im Kalten Krieg

Seine Ursprünge lassen den VS als ideologisches und, wie Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung schreibt, als besonders aggressives Kind des Kalten Krieges erscheinen: Gezüchtet als nachrichtendienstliche Waffe eines militanten Antikommunismus im Ost-West-Konflikt der 1950er Jahre, nicht zuletzt zur staatlichen Absicherung des westdeutschen »Boll­werkes gegen den Kommunismus« im Osten, zur Absicherung der Wiederbewaffnung und der Westintegration der Bundesrepublik. Damals erwarb er sich seine zweifelhaften »Verdienste« bei der systematischen Ausspähung und gesellschaftlichen Ausgrenzung von Kommunisten, anderen Linken und Antifaschist­en aus dem politischen Willensbildungsprozess. Viele von ihnen landeten auch im Gefängnis.

Die tendenziell einseitige Ausrichtung der Geheimdienstarbeit des VS gegen links lag auch daran, dass seine Geschichte selbst gewissermaßen »rechtsextrem« begonnen hatte – nämlich auch mit Altnazis, die schon in der Nazizeit bei Gestapo, SS und Nazijustiz einschlägig tätig waren. Dieses vorbelastete Personal fühlte sich berufen, die neue bundesdeutsche Verfassung zu schützen, und verhinderte konsequenterweise nicht, dass sich andere Ex- und Altnazis im Staatsapparat einnisten konnten – ob in Verwaltung, Polizei oder Justiz. Diese großangelegte Reintegration war seinerzeit offizielle Politik (gemäß Artikel 131 des Grundgesetzes).

Das alles hatte prägende Auswirkungen auf die bundesdeutsche Entwicklung: Denken wir nur an die extensive Kommunistenverfolgung der 1950er/60er Jahre mit Abertausenden Betroffenen oder später an die gegen Linke gerichtete einschüchternde und existenzbedrohende Berufsverbotepolitik der 1970er/80er Jahre, die zu millionenfacher Ausforschung führte und der zahlreiche Menschen mit ihren Lebensentwürfen zum Opfer fielen, sowie an die »bleierne Zeit« des »Deutschen Herbstes« im Laufe des staatlichen Antiterrorkampfs gegen RAF und Co. An all diesen dunklen Kapiteln bundesdeutscher Geschichte war der VS maßgeblich beteiligt.

Eine Skandalgeschichte

Die nunmehr über 70jährige Geschichte des VS lässt sich insgesamt auch als eine Geschichte von Skandalen und Bürgerrechtsverletzungen schreiben: von der Waffenbeschaffung für militante Gruppen, der unheilvollen Verstrickung in den Mord an dem V-Mann Ulrich Schmücker 1974 mit fatalen Auswirkungen auf das Strafverfahren, der Überwachung demokratischer Organisationen und Parteien, die als »extremistisch beeinflusst« galten, sowie politisch-sozialer Bewegungen, wie der Antiatom- und der Friedensbewegung, über skandalöse Sicherheitsüberprüfungen, Bespitzelung von Abgeordneten, Anwälten, Journalisten und Gewerkschaftern – ohne Rücksicht auf Berufsgeheimnisse, Meinungs- und Pressefreiheit –, bis hin zu jenem fingierten Bombenattentat, das als »Celler Loch« in die Geschichte einging, oder bis hin zu Murat Kurnaz, der unter anderem aufgrund von VS-Informa­tionen als angebliches »Sicherheitsrisiko« über vier Jahre lang im US-Foltercamp Guantanamo ein wahres Martyrium erleiden musste. Insgesamt eine endlose Chronik der Skandale, die mit der V-Mann-Affäre im ersten gescheiterten NPD-Parteiver­botsverfah­ren, den Verflechtungen in Naziszenen und im NSU-Umfeld sowie in den NSA-Mas­sen­überwa­chungs­skandal ihre vorläufigen Tiefpunkte fand.

Und nicht zu vergessen: der Skandal um den Expräsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, der seine eigene rechtskompatible Agenda verfolgte, Politiker der schon damals stramm rechtsgerichteten AfD in vertraulichen Gesprächen über unveröffentlichte Er­kennt­nisse informierte, sie gar beraten haben soll, wie eine AfD-Be­obach­tung zu vermeiden sei, der rassistische Hetze und Angriffe auf Migranten in Chem­nitz bezweifelte bzw. relativierte, der den Whistleblower Ed­ward Snowden verdächtigte, russischer Spion zu sein, und der mit einer Strafanzeige gegen zwei Jour­nalisten des Internetportals netzpolitik.org Ermittlungen wegen Landesverrats auslöste, die Generalbundesanwalt Harald Range zu Fall und die Pressefreiheit in Gefahr brachten. Nachdem Maaßen 2018 seinen Posten als BfV-Präsident hatte räumen müssen, geriet er 2024 als Vorsitzender der »Werteunion« selbst ins VS-Visier seiner ehemaligen Kollegen – als »Rechtsextremist«!

Sinnkrise und neue Legitimation

Zurück in die »Nachwende«-Zeiten. Nach dem Umbruch in Osteuropa, dem Beitritt der DDR und damit dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre geriet der VS – nach Wegfall der »kommunistischen Bedrohung« – zunächst in eine tiefe Sinnkrise: Nachdem er selbst diese Entwicklung nicht vorhergesehen hatte (von wegen »Frühwarnsystem«), wurde er recht unvorbereitet um seine altbewährten Feindbilder gebracht. Nach anfänglicher Trauerarbeit, Irritationen und ersten Personalreduzierungen wurde aber wieder kräftig ausgebaut – gen Osten und gesamtdeutsch: Seitdem haben wir 17 VS-Behörden in Bund und Ländern mit insgesamt über 8.000 Bediensteten, einem kleinen Heer von Informanten und V-Leuten. Sowohl Personalbestand als auch Budgets des VS haben sich in den vergangenen Jahrzehnten stark erhöht.

Anstatt nach Ende des Kalten Krieges die dringliche Frage nach der Existenzberechtigung des VS als Geheimorgan zu stellen, wurden seit 1990 immer wieder neue Rechtfertigungen nachgeschoben: Neben den »traditionellen« Aufgabenfeldern »Links-« und »Rechtsextremismus«, »Ausländerextremismus« und Terrorismus sowie Spionageabwehr werden bzw. wurden in manchen Bundesländern organisierte Kriminalität, Wirtschaftsspionage, die Links­partei oder Teile von ihr sowie die Scientologen als Beobachtungsobjekte und Aufgabenbereiche bearbeitet – dann auch Teile der heterogenen politisch-sozialen Bewegungen, inzwischen auch Teile der Klimaschutzbewe­gung, wie etwa »Ende Gelände« (»linksextremistischer Verdachtsfall«).

Nach »9/11« beschäftigten sich alle VS-Behör­den verstärkt mit dem »islamistischen Extremismus« und dem »internationalen Terrorismus«. Alle Geheimdienste erlebten damals einen kräftigen Schub, der immer noch anhält: Sie wurden ausgebaut, bekamen mit den sogenannten Antiterrorgesetzen und mit späteren »Reformgesetzen« neue Aufgaben, Kontroll- und Vernetzungsbefugnis­se, die tief in Grundrechtspositionen von Betroffenen, auch von Unbeteiligten, eingreifen.

Auch der »Rechtsextremismus«, der sich seit Beginn der 1990er Jahre als eine zunehmende Gefahr herausgestellt hatte, konnte vortrefflich als Legitimation für Weiterexistenz und Ausbau des VS und seines V-Leute-Netzes genutzt werden. Zu welchem Desaster dies führte, mussten wir spätestens nach Auffliegen des NSU erfahren. Seit Anfang 2019 kamen Teile der AfD, später die gesamte Partei und ihre Jugendorganisation als Be­obachtungsobjekte hinzu. Seit etwa 2021 gibt es eine neue VS-Beobachtungs­kategorie: die »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates«. Damit können nun auch Bewegungen, Gruppen, Einzelpersonen und deren Aktivitäten beobachtet werden, wenn sie nicht eindeutig als »links-« oder »rechts­extremistisch« einzustufen sind: so etwa Teile von »Pegida«, der Proteste gegen den Coronaausnah­mezustand bzw. der »Querdenker«-Bewegung sowie »verschwörungsideologische« Szenen. Mit dieser Erweiterung des Beobachtungsspektrums können auch fundierte staats- und regierungskritische Positionen allzuleicht unter Extremismusverdacht geraten.

Kriminelle im Dienst des Staates

Trotz intensiverer VS-Bemühungen seit Anfang der 1990er Jahre, extrem rechte, nazi­stische Beobachtungsfelder zu infiltrieren, konnten oder wollten die meisten VS-Behör­den weder die Vermehrung nazistischer Organisationen und Aktivitäten rechtzeitig vorhersagen noch die Zunahme rassistischer Gewalttaten erklären. Und lange Zeit verkannten sie die organisatorischen Qualitäten solcher Gruppierungen und Netzwerke – obwohl es längst starke Ansätze zu Organisierung und Vernetzung gab sowie alarmierende Anzeichen für wachsende Gewaltbereitschaft mit rechtsterroristischen Tendenzen. Nazis konnten sich lange Zeit fast unbehelligt, teils gar staatlich »betreut« und abgeschirmt, entwickeln und ihre Blutspur durch die Republik ziehen – mit über 200 Toten seit 1990.

Dabei ist besonders zu berücksichtigen, dass just im Laufe der 1990er Jahre in Naziszenen und -parteien sich regelrechte Netzwerke aus Informanten, V-Leuten und verdeckten Mitarbeitern entwickelten – was den Kabarettisten Jürgen Becker zu einem bösen Scherz verleitet hat: Bei Naziaufmär­schen sei er sich oftmals nicht mehr ganz so sicher, ob es sich um echte Nazis handelt oder um einen »Betriebsausflug des Verfassungsschutzes«. In dieser kabarettistischen Überspitzung liegt ein wahrer Kern. So soll etwa der Berliner Landesvorstand der NPD so stark durchsetzt gewesen sein, dass der VS mit seinen V-Leuten einen Beschluss hätte herbeiführen können, die NPD in Berlin aufzulösen. Wäre jedenfalls einfacher gewesen als ein kompliziertes Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, das zweimal scheiterte – unter anderem wegen der Gefahr »fehlender Staatsferne« angesichts so vieler V-Leute in der NPD. Jahrzehntelang waren solche, auch in Leitungsfunktionen, landauf, landab fleißig dabei, die NPD zu stabilisieren, zu radikalisieren und auszubauen.

V-Leute – oder auch »menschliche Quellen« genannt – zählen zu den klassischen und zu­gleich wichtigsten Informationsquellen eines Geheimdienstes. Sie werden vom VS nicht selten mit mehr oder weniger Druck und mit weitreichenden Versprechungen rekrutiert. Sie stammen in aller Regel aus der jeweils zu beobachtenden Szene, mit deren Zielen sie sich identifizieren, in der sie einschlägig tätig sind und die sie nun für den VS ausspionieren sollen. Die in Naziszenen rekrutierten V-Leute sind also nicht etwa »Agenten« des demokratischen Rechtsstaats, sondern staatlich alimentierte Aktivisten – zumeist hartgesottene Nazis, gnadenlose Rassisten, nicht selten Gewalttäter, über die sich der VS zwangsläufig in kriminelle Machenschaften und Naziszenen verstrickt. Brandstiftung, Körperverletzung, Totschlag, Mordaufrufe, Waffenhandel, Gründung terroristischer Vereinigungen: Das sind nur einige der Straftaten, die V-Leute im und zum Schutz ihrer Tarnung schon begangen haben.

Nichtkriminelle V-Leute in Naziszenen sind eher die Ausnahme. Denn sie können sich, selbst wenn sie wollten, in einer gewaltbereiten Szene nicht als stille Beobachter betätigen, sonst würden sie als Spitzel auffallen und sich in Gefahr bringen. Mit ihrer Käuflichkeit begeben sich V-Leute zudem in ein fatales Abhängigkeitsverhältnis zum VS, das sie immer wieder »produktiv« macht, um für sich die Vergünstigungen und Honorare zu erhalten, die sie für Informationen beziehen und die bei längeren Engagements schon mal in die Zigtausende gehen.

Lange vor Bekanntwerden der NSU-Mordserie hatte ich, es war im Jahr 2003, solche VS-Verflech­tungen in gewaltbereite Naziszenen in meinem Buch »Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des Staates« (Knaur-Verlag; aktuell 2012 als E-Book) unter anderem anhand geheimer Unterlagen aufgedeckt und als Fallstudien dokumentiert, was dann rund zehn Jahre später so großes Erstaunen und Entsetzen auslöste. Meine damaligen Befunde führten mich dazu, das V-Leute-System der VS-Behörden als teils kriminell, als unkontrollierbar und demokratiewidrig zu kritisieren.

Zur Veranschaulichung dieser V-Leute-Praxis nur ein paar Beispiele aus den vergangenen Jahrzehnten: Erinnert sei an den V-Mann Hans-Dieter Lepzien, der in den 1980er Jahren als Sprengstofflieferant für die Naziszene tätig war und dafür auch verurteilt, allerdings recht bald begnadigt wurde. Erinnert sei an den V-Mann Bernd Schmitt, dessen Kampfsportverein »Hak Pao« Treffpunkt und Trainingscenter der militanten Naziszene in Solingen war. Aus diesem Kreis stammten jene Brandstifter, die eines der schwersten Kapitalverbrechen in der Geschichte der Republik auf dem Gewissen haben: den Solinger Brandanschlag, bei dem 1993 fünf türkische Frauen und Mädchen verbrannt sind. Ein V-Mann des mecklenburg-vor­pommerschen VS ist zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden, weil er mit rassistisch eingestellten Jugendlichen einen ausländerfeindlichen Brandanschlag auf eine Pizzeria in Grevesmühlen verübt hatte. Er habe die Tat mit begehen müssen, so rechtfertigte er sich später, um bei seinen Kameraden glaubwürdig zu erscheinen und nicht als Spitzel aufzufliegen; das hat er mir selbst im Gefängnis berichtet, wo ich ihn anlässlich meiner Recherchen aufgesucht hatte. Also Brandstiftung angeblich aus Angst vor Enttarnung. Erinnert sei auch an die V-Leute Toni Stadler und Mirko Hesse in Brandenburg, die die dortige Naziszene mit Musik-CDs versorgten, in denen Volksverhetzung betrieben und zum Mord an Juden, Künstlern und Politikern aufgerufen wurde – alles quasi vor den Augen von VS-Behörden.

Rolf Gössner ist Publizist und Jurist, Kuratoriumsmitglied der »Internationalen Liga für Menschenrechte« und Mitherausgeber des jährlichen »Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland«. Zuletzt veröffentlichte er den Band: »Datenkraken im öffentlichen Dienst. ›Laudatio‹ auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat«, Köln 2021. Internet: www.rolf-goessner.de.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred G. aus Manni Guerth (19. Juli 2024 um 13:22 Uhr)
    Das »Celler Loch«: ZITAT: »Am 25.7.1978 sprengten niedersächsische Verfassungsschutzbeamten ein Loch in die Mauer der Celler JVA. Die Landesregierung und die Anstaltsleitung wussten Bescheid. Den Medien wurde vorgelogen, der Anschlag sei ein Befreiungsversuch für SIGURD DEBUS gewesen, tatverdächtig sei KLAUS-DIETER LOUDIL, ein vom Hafturlaub nicht zurückgekehrter Schwerkrimineller. Der Verfassungsschutz hatte sogar zwei Kriminelle angeworben, der andere war MANFRED BERGER. Die «Verfassungsschützer» ließen Ausbruchswerkzeug in DEBUS' Zelle schmuggeln, das dort gefunden werden sollte. In einem gestohlenen Auto, das der Geheimdienst von der Polizei in Salzgitter finden ließ, lag neben anderen Gegenständen, die auf eine geplante Gefangenenbefreiung hindeuten sollten, ein gefälschter Paß für DEBUS.« Drahtzieher der Aktion war ALBRECHT. Die Regierung ALBRECHT stellte die Aktion als großen Erfolg dar. Ein »Volksgefängnis« mit »Stalin-Orgel« und ein Bombe wurden Gefunden. ERNST ALBRECHT vertrat übrigens in einem Buch die Ansicht, Folter sei in bestimmten Situationen ein erlaubtes Mittel, Verbrechen aufzuklären. ZITAT: »Ein weiterer Geschädigter der Aktionen war der Maurer MANFRED GÜRTH, in dessen Wohnung LOUDIL eingezogen war. Nach LOUDILs Auszug entdeckte man dort eine Bombe, wofür GÜRTH zu drei Jahren Haft wegen Vorbereitung eines Sprengstoffanschlags verurteilt wurde, aber vermutlich hatte LOUDIL die Bombe gebaut.« Ich war damals der »Besitzer« des sogenannten »Volksgefängnisses« und der angebliche Hersteller der Bombe. Für ALBRECHT sei kein Schaden entstanden – eine längere Zeit Knast, für einen Unbeteiligten ist für ihn kein Schaden, weil es sich um einen Kommunisten handelt. Der »Verfassungsschutz« ein Spiegel des politischen Systems. Das gegenwärtige System ist weder Demokratie noch hat es eine Verfassung – es ist eine bürgerliche Diktatur mit allen negativen Erscheinungen, wie Krieg, Faschismus und politischer Kriminalität Manni Guerth

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